Ist die Customer Journey eine Kaffeefahrt?

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Web-Analytiker erforschen die Customer Journey – den Weg des Kunden hin zum endgültigen Kaufakt – um Werbeimpulse entlang dieser Route richtig zu platzieren. Doch manchmal sind die Konsumenten unterwegs ohne klares Ziel. Das Marketing muss verstehen, warum sich Menschen auf die Reise machen.

Wenn man sich zur Zeit die Überschriften in der Marketing-Fachpresse und die Programme auf den einschlägigen Fachkongressen anschaut, kann man den Eindruck bekommen, man befinde sich in der Tourismus-Branche: Eines der Lieblings-Begriffe der Marketing- und Internet-Experten ist im Augenblick die „Customer Journey“ oder auch „Consumer Journey“.

Hinter diesem Schlagwort steht eine wichtige Erkenntnis: Menschen treffen ihre Kaufentscheidungen nicht als einmaligen Akt, sondern durchlaufen viele einzelne Schritte, bis sie sich schließlich für ein Produkt entscheiden. Dies könnte man nun ganz einfach „Kaufentscheidungsprozess“ nennen, was aber sehr technisch klingt, während die metaphorische Bezeichnung der Reise irgendwie sympathischer erscheint. Und natürlich wird der Begriff auch nicht ins Deutsche übersetzt. Zu Recht: „Consumer Journey“ hört sich natürlich besser an als „Verbraucher-Reise“ – bei letzteren denkt man hierzulande wohl eher an eine Kaffeefahrt, bei denen gewiefte Seelenverkäufer unbedarfte Rentner mit den Bus übers Land kutschieren, um ihnen überteuerte Heizdecken zu verkaufen. Englische Begriffe im Marketing sind durchaus hilfreich, wenn sie für Konzepte stehen und nicht einfach nur verbale Nebelkerzen ohne klaren Inhalt sind. Was steckt also hinter der „Customer Journey“?

Werbung pflastert unseren Weg

Der Siegeszug des Begriffs kam mit dem E-Commerce: Zum ersten Mal war es möglich, anhand von elektronisch messbaren Daten den gesamten Kaufprozess abzubilden: Vom Kontakt mit Werbe-Bannern, dem Eintippen von Suchwörtern bei Google, dem Abrufen von Produktinformationen auf einer Shopping-Seite bis hin zu dem tatsächlichen Kauf und eventuell auch noch weiter – bleibt der Kunde treu? Kauft er weiter ein? Nutzt er den Service des Anbieters oder gibt er sogar eine Beurteilung der gekauften Ware ab? Die Analyse dieser Daten zeigt, wie Menschen das Internet nutzen, um ihre Käufe zu erledigen und wo die kritischen Punkte sind, an denen ein Kauf scheitern kann – etwa bei dem umständlichen Registrierungsformular kurz vor dem Bezahlen.

E-Commerce-Anbieter konnten mit diesen Daten ihre Angebote und Marketing-Maßnahmen optimieren und Performance Marketing Agenturen versprechen ihren Kunden, Online-Werbung zielgenau an den Wegstationen der „Customer Journey“ zu platzieren. Manchmal hat man den Eindruck, einige verwechseln tatsächlich die Journey mit einer Kaffeefahrt: Wenn man den Weg des Konsumenten mit gezielter Werbung zupflastert, wird er am Ende schon kaufen. Einige Experten meinen sogar, die gezielte Marketing-Kommunikation entlang der Customer Journey mache das Konzept der Marke überflüssig und sprechen von einem „Abschied vom Branding“. Ähnlich sehen es viele Online-Marketing-Leute: Sie glauben, das Sammeln und Analysieren von Transaktionsdaten im Internet mache die herkömmliche Marktforschung überflüssig.

Ursprünge in der Ethnologie

Doch die Idee der Consumer Journey kommt ursprünglich aus einer ganz anderen Ecke: Schon Ende des letzten Jahrhunderts haben einige Marktforscher die Methoden von Ethnologie und qualitativer Sozialforschung entdeckt und mit Hilfe von Beobachtungen und Tiefeninterviews die Kaufentscheidungen rekonstruiert. Sie stellten fest, dass solche Käufe komplexen Stufen vorausgehen, die einer Reise ähneln, aber keiner Dienstreise mit klaren Ziel, sondern eher einem Umherschweifen mit ungewissen Ausgang – so wie die Reisen des klassischen Helden Odysseus oder der Protagonisten in dem Roadmovie „Easy Rider“.

Und auch hier haben wir eine wichtige generelle Erkenntnis: Konsumenten-Reisen können an jeder Weggabelung eine unvorhergesehene Richtung einschlagen und werden subtil von Emotionen, Wünschen und Befindlichkeiten der Reisenden beeinflusst. Marketing kann diese Reise nicht steuern, aber es kann manchmal den Stups in die richtige Richtung geben, vorausgesetzt man kennt die Bedürfnisse der Kunden.

Verbraucher finden ihren eigenen Weg

Daraus ergibt sich der wirkliche Wert der Reise-Metapher, der nicht nur für Online-Verkäufer wichtig ist, sondern für alle Händler, Marken und Medien: Wir müssen verstehen, wie Verbraucher ihre Entscheidungen treffen. Studien zeigen, dass die Reise heute komplexer geworden ist: Entscheidungen dauern länger, es werden mehr Geschäfte in Betracht gezogen, mehr Informationsquellen genutzt, mehr Menschen als Ratgeber und Mitentscheider involviert. Jede Familie ist heute ein Buying Center, ähnlich denen in großen Unternehmen. Und durch das Social Web wird das Buying Center auch noch auf Freunde und Bekannte ausgedehnt, die dank Smartphone und Facebook jederzeit konsultierbar sind. Eine weitere Erkenntnis: Es wird immer schwerer, dominante Muster zu erkennen – jede Reise kann anders aussehen, der Einfluss von Marketing-Maßnahmen auf ihren Weg schwankt von Konsument zu Konsument oder von Tag zu Tag.

Um die richtigen Marketing- und Kommunikations-Maßnahmen zu ergreifen, darf man sich nicht nur auf das Sammeln von elektronischen Daten konzentrieren, sondern man muss auch die Motivation der Verbraucher dahinter durchleuchten. Erst die Verbindung aus Web-Analytics oder Käuferdaten mit qualitativer Forschung und dem Aufspüren von verdeckten Motiven wird das Marketing verbessern: Dann wird die „Customer Journey“ weder eine Abzocke-Kaffeefahrt noch eine nimmer endende Odyssee, sondern eine normale Reise, bei der alle zufrieden am Ziel ankommen.

Erschienen bei Springer for Professionals