Verändert das Internet unser Hirn?

Buchkritik:

„Wer bin ich, wenn ich online bin…?“ von Nicholas Carr –  

In einem lesenswerten Buch beschäftigt sich der amerikanische Autor Nicholas Carr mit der Frage, wie sich unser Denken durch die immer ausgedehntere Internetnutzung wandelt. Dabei versteht er „Denken“ nicht nur metaphorisch, sondern auch ganz konkret: Was verändert sich in unserem Gehirn und seinen Verschaltungen?

Seiner Meinung nach eine ganze Menge: Im Gegensatz zur früheren Lehrmeinung haben aktuelle Studien der Neurowissenschaftler herausgefunden, dass sich unser Gehirn auch noch im Erwachsenenalter neu strukturiert, je nachdem, welche Fähigkeiten und Gewohnheiten trainiert werden. Diese Plastizität ist ein riesiger Vorteil, da wir uns so an die jeweils aktuellen Umweltbedingungen anpassen können – nur so ist Lernen überhaupt möglich. Und die Umweltbedingungen werden durch Medien vorgegeben: In den früheren Jahrhunderten mussten sich die Menschen erst mühsam an die Technik des lautlosen Lesens gewöhnen – heute fliegen wir leichtfertig mit den Augen über den Text, konzentrieren uns auf unsere Lektüre und verstehen alles, ohne es laut auszusprechen. Was für uns selbstverständlich ist, erschien noch vor einigen Jahrhunderten vielen Menschen wie Zauberei: Damals sprach man sich jeden Buchstaben laut aus, um sich mit einiger Anstrengung den Sinn des Geschriebenen zu vergegenwärtigen.

Das Internet ändert wieder unsere Lesegewohnheiten: Statt einem linearen Text gibt es ein Bombardement von Multimedia-Eindrücken, statt Konzentration lassen wir uns ständig von neuen Reizen ablenken, statt auf einer Seite zu bleiben folgen wir den Links zu anderen Websites. Laut Carr hat das Einfluss auf die Arbeitsweise unseres Gehirn: Konzentration und Fokussierung fällt uns zunehmend schwer, während ein oberflächliches Überfliegen zum vorherrschenden Betriebsmodus wird. Daher auch der Original-Titel des Buches: „The Shallows“ – was auf Deutsch sowohl „Untiefen“ wie auch „die Oberflächlichen“ bedeuten kann.

Dass der deutsche Verlag daraus dann „Wer bin ich, wenn ich online bin…und was mein Gehirn solange?“ gemacht hat, zeigt ein offensichtliches Marketing-Kalkül: Die Ähnlichkeit zum Bestseller „Wer bin ich und wenn ja, wie viele?“ soll wohl ausgebeutet werden, egal wie albern es sich auch anhört. Was wohl das Gehirn des Lektors solange gemacht hat, als er sich diesen Titel ausdachte? Aber zurück zum Thema: Carrs Buch illustriert an vielen historischen Beispielen und wissenschaftlichen Befunden die These des veränderten Denkens. Doch seine Argumentation ist nicht immer stringent:

Er beginnt mit eigenen Erfahrungen – angeblich habe er auch schon Konzentrationsschwierigkeiten – und geht weiter mit mediengeschichtlichen Überlegungen über die großen Innovationen: Sprache, Schrift, Alphabet, Buch, Druckerpresse und so weiter. Dann kommen die Befunde zur Neuroplastizität des Gehirns. Es wird erläutert, wie das Gedächtnis funktioniert, was Spiegelneuronen sind und warum unsere Erfahrungen mitunter sogar einen Einfluss darauf haben, welche Gene an- oder abgeschaltet werden, damit neue Synapsen und Nervenverknüpfungen entstehen. Die einschlägigen Autoritäten aus mehreren Jahrhunderten werden zitiert: Platon, Sokrates, Marshall McLuhan, Eric Kandel, Descartes. Aber auch über die Geschäftspolitik von Google und die Interpretation von IQ-Tests schreibt der Autor. Das ist alles sehr spannend zu lesen und regt zum Nachdenken an, doch seine ursprüngliche These wird durch diese Indizienbeweise nicht unbedingt gestützt. Denn wenn unser Gehirn sich so flexibel entwickelt, kann es sich auch jederzeit wieder auf das konzentrierte Lesen einstellen – der Autor berichtet selbst, dass er in einem Selbstversuch nur einige Wochen gebraucht habe, um sich vom Online-Modus wieder zu entwöhnen und konzentriert sein Manuskript zu schreiben.

Einige Rezensenten sehen in dem Buch eine radikale Abrechnung und Warnung vor dem „digitalen Konzentrationsschredder“ (so ein Zitat aus der Süddeutschen, das der Verlag auf dem Klappentext platziert hat). Nun ja, beim oberflächlichen Überfliegen, könnte man zu so einem Eindruck kommen. Wer aber das Buch aufmerksam und konzentriert gelesen hat, findet darin ein differenziertes Bild – sowohl über die digitale Welt, wie auch über unser Gehirn, das viel schlauer ist, als wir manchmal denken.

Nicholas Carr: Wer bin ich, wenn ich online bin…: und was macht mein Gehirn solange? – Wie das Internet unser Denken verändert; Karl Blessing Verlag, München 2011, 382 Seiten, 19,95 €, ISBN 978-3-89667-428-9

UPDATE 2021:

Der Verlag hatte ein Einsehen und hat der Taschenbuch-Ausgabe einen neuen Titel gegeben – ob er aber besser ist, darüber lässt sich streiten: „Surfen im Seichten“. Ich muss da sofort an das zeitlose Zitat von Helmut Thoma denken: „Im Seichten kann man nicht ertrinken.“