Nicht alle Kinder sind mir ihrer Freizeit zufrieden

Buchkritik:

„Kinder in Deutschland 2013 – 3. World Vision Kinderstudie“ –  

Wenn es um das Thema Kinder und Medien geht, so wird meist über Kinder geredet und selten mit ihnen. Wie nehmen sie eigentlich ihre Medienumwelt wahr? Wie schätzen sie die Qualität ihrer Freizeit ein? Glücklicherweise gibt es zwei wichtige Studien, die sich bemühen, die Sicht der Kinder auf einer repräsentativen Basis zu erfassen.

Eine davon ist die KIM-Studie – Kinder + Medien, herausgegeben vom Medienpädagogischen Forschungsverbund Südwest, die im zweijährigen Rhythmus erscheint und detailliert Zugang zu und Nutzung von Medien bei den Sechs- bis Dreizehnjährigen erhebt. Die andere Studie hat einen breiteren Fokus, aber auch sie liefert verlässliche und wertvolle Zahlen zur kindlichen Freizeit: die World Vision Kinderstudie. Sie erscheint alle drei Jahre, Ergebnisse der aktuellsten Welle aus dem Jahr 2013 liegen als Taschenbuch vor, deshalb wollen wir uns hier etwas genauer damit beschäftigen.

Die Studie selbst ist auf einer soliden Datenbasis begründet: Über 2.500 Kinder im Alter von sechs bis elf Jahren wurden von TNS Infratest Sozialforschung befragt. Als Berater standen Experten wie der Pädagogik-Professor Klaus Hurrelmann zur Verfügung. Das Schwerpunktthema bei der jüngsten Welle lautete: „Wie gerecht ist unsere Welt?“ Dabei wurde u.a. anhand der umfassenden Befragungsdaten die Frage untersucht, welchen Einfluss die Schichtzugehörigkeit auf Zufriedenheit, Alltag und Chancen der Kinder hat. Hier wollen wir uns nur auf die Daten zur Freizeit konzentrieren.

Dabei gibt es einige interessante Ergebnisse, die so gar nicht den Vorurteilen von Erwachsenen entsprechen: So bleibt z.B. die Nutzung von Computer- und Video-Spielen seit der letzten Studie weitgehend konstant (der Anteil der Kinder, die häufig spielen, stieg nur von 25% auf 30%). Der Fernsehkonsum hat sogar abgenommen – 2007 gaben 56% der Acht- bis Elfjährigen an, sie sehen häufig fern. 2013 waren es 49%. Doch ein Vorurteil scheint sich zu bestätigen: Immer weniger Kinder bezeichnen sich als häufige Leser – doch auch hier sind die Werte weniger dramatisch, als manche befürchten: Der Anteil der häufig lesenden Kinder ging von 34% im Jahr 2007 auf auf 31% zurück.

Doch hinter diesen aggregierten Zahlen stecken ganz unterschiedliche Mediennutzungsmuster. Die Forscher berücksichtigten das und kreierten eine dreiteilige Typologie: Die „Vielseitigen Kids“ (25% der Sechs- bis Elfjährigen) haben ein breites Repertoire an Freizeitaktivitäten, sie sind überdurchschnittlich häufig in Vereinen, unternehmen viel mit der Familie, sind musisch interessiert, lesen sehr viel (61% häufig) und schauen wenig fern (13% häufig). Hier finden sich überproportional viele Mädchen. 49% der Kinder sind in der Gruppe der „normalen Freizeitler“ – sie repräsentieren den Durchschnitt der Kinder, hier sind es 48%, die häufig fernsehen und 29%, die häufig lesen. Die dritte Gruppe wurde von den Forschern „Medienkonsumenten“ genannt (26% der befragten Kinder). Ihr Freizeit-Repertoire ist deutlich eingeschränkter, Fernsehen (87% häufig) und Gaming (56%) dominieren die Freizeit. Jungen sind in dieser Gruppe überrepräsentiert.

Was beeinflusst diese Freizeit-Muster? Hier ist es die Schichtzugehörigkeit, die entscheidend ist: Die Vielseitigen finden sich eher in den gehobenen Schichten, die Medienkonsumenten in den unteren. Der materielle Unterschied wirkt sich dabei weniger auf den Zugang zu technischen Geräten aus, sondern auf die Zeit, die die Eltern mit den Kindern verbringen und die Anzahl der Bücher im Haushalt aus. Übrigens: Einen direkten Einfluss eines Migrationshintergrundes auf die Freizeit-Typen ließ sich nicht feststellen, Tatsache ist aber, dass mehr Kinder mit Migrationshintergrund in den unteren Schichten leben.

Deutschland ist also, was die Freizeit der Kinder betrifft, ein gespaltenes Land. Das zeigt sich auch bei der in Vereinen organisierten Freizeit: Solche Angebote werden eher in der Mittel- und Oberschicht genutzt, selbst bei Sportvereinen ist in den letzten Jahren die Mitgliedschaft in der Unterschicht zurückgegangen.

In puncto Internet-Nutzung scheinen Facebook und Chats bei Kindern in allen Freizeit-Typen populär zu sein. Der grundsätzliche Zugang zum Internet ist bei allen Gruppen ziemlich gleich, bei den Vielseitigen sogar etwas geringer – hier scheinen die Eltern eine stärkere Kontrolle auszuüben.

Die Studie liefert darüber hinaus noch eine Vielzahl weiterer Befunde: Was machen die Kinder im Internet? Wie selbstverständlich ist ein Handy heutzutage? Wie zufrieden sind die Kinder mit ihrer Freizeit? Bei der letzten Frage zeigt sich trotz einer hohen allgemeinen Zufriedenheit (59% schätzen ihre Freizeit positiv ein), dass Kinder in der Unterschicht weniger zufrieden sind. Im Zusammenhang mit der Frage der Gerechtigkeit und Gleichheit offenbart sich hier ein gesellschaftspolitischer Handlungsbedarf: Viele Bildungs-, Sport-, Kultur- und Freizeit-Angebote erreichen die Kinder in der Unterschicht nicht; die intensive Mediennutzung scheint hier wegen des einfachen Zugriffs darauf ein Ersatz zu sein.

Wer sich mit der Zielgruppe Kinder beschäftigt, sollte vor solchen Fragen nicht die Augen verschließen. Die World-Vision-Kinderstudie liefert hier eine umfassende empirische Basis. Die Ergebnisse werden sehr sachlich und zahlenlastig dargestellt, doch gibt es auch ein eigenes Kapitel mit der qualitativen Beschreibung von beispielhaften Fällen, die das Zahlenwerk mit Gesichtern und Details anschaulich machen. Eine wichtige Daten-Quelle, die aber auch zum Lesen einlädt.

World Vision Deutschland e.V. (Hrsg.): „Kinder in Deutschland 2013 – 3. World Vision Kinderstudie“, Beltz Verlag, Weinheim/Basel 2013, 360 Seiten, 19,95 EUR, ISBN 978-3-407-85950-1.

UPDATE 2018:

Mittlerweile ist eine neue Welle der Kinderstudie erschienen – wie immer faktenreich und erhellend. Auch die neue Publikation habe ich rezensiert und zwar hier.