Zukunftsvisionen mit wenig Fantasie

Buchkritik:

„2112 – Die Welt in 100 Jahren“ von Ernst Grandits –

Viele Bücher spekulieren über die Zukunft der Medien, doch meist bleiben sie der Gegenwart verhaftet. Wenn Autoren über die Zukunft der Medien nachdenken, dann gibt es zwei Extrem-Positionen: Utopie und Dystopie. Entweder wird eine paradiesische Zukunft gemalt – oder das Gegenteil davon. Verkaufsschlager werden in der Regel eher die düsteren Horrorvisionen. George Orwells Roman „1984“ ist auch 75 Jahre nach seinem Erscheinen noch ein Klassiker. Im Augenblick haben wieder jene Sachbücher und Romane Konjunktur, die in Orwells Tradition von Datenkraken und Total-Überwachung erzählen, allen voran Dave Eggers Bestseller The Circle. Doch diese Bücher zeichnen eher ein überspitztes Bild der Gegenwart als das sie sich wirklich auf einen Blick in die Zukunft einlassen. Eine Ausnahme – zumindest auf den ersten Blick – ist der vor zwei Jahren erschienene Sammelband „2112 – Die Welt in 100 Jahren“. Die Idee ist genau 100 Jahre alt – 1912 erschien ein Buch, welches dem Leser Beiträge von zeitgenössischen Gelehrten über das Leben 2012 präsentierte.

Die Autoren der neuen Version trauen sich meist nicht, konkrete Vorhersagen zu machen (immerhin wird in einem Text die Fertigstellung der Hamburger Elbphilharmonie auf 2022 datiert). Der Beitrag über die Medien im Jahre 2112 stammt von Norbert Bolz und umkreist eher allgemein-philosophisch sein Thema. Bolz macht sich Gedanken über die Noosphäre – eine Art Weltgesellschaft, die über Medien vernetzt ist und eine eigene Intelligenz entwickelt, vergleichbar der Biosphäre, der die immanente Intelligenz der Evolution innewohnt.

Konkrete Ideen findet man aber in anderen Kapiteln: Monitore, die auf Briefmarkengröße faltbar sind, Neuro-Enhancement-Zentren, in denen man seine Gedächtniskapazität vergrößern kann, Techniken mit denen wir unsere Sinnesorgane erweitern können. „Wir werden mit den Haaren die entferntesten Gespräche hören und mit den Fingern Musik aus der Luft greifen“ meint der Medienkünstler Peter Weibel etwa. Er nennt dies „Exo-Evolution“ – die natürliche Evolution wird durch die technische Entwicklung verstärkt, dadurch bekommen Menschen neue Fähigkeiten, die eine Trennung von Körper und Medien mehr und mehr aufheben.

Das sind interessante Ideen, die nach Science Fiction klingen. Doch Science Fiction ist keine schlechte Herangehensweise an das Thema Medienzukunft, wenn wir nicht im Hier und Jetzt gefangen bleiben wollen.

Ernst A. Grandits (Hrsg.): 2112 – Die Welt in 100 Jahren; Georg Olms Verlag, Hildesheim 2012, 300 Seiten, 19,80 €, ISBN 978-3-487-08519-7