Mediabranche 2012 – Desintegration an den Rändern

Die Gewöhnung an den permanenten Wandel verhindert manchmal, die wirklich bedeutsamen Veränderungen zu erkennen. In der Mediabranche läuft vieles noch so wie gewohnt. Smartphones und Tablets scheinen die Vertriebsmöglichkeiten der klassischen Medien nur zu ergänzen. Die Konsumenten gewinnen langsam Gefallen am mobilen Internet, dadurch verschwimmt die Grenze zwischen Online und Offline zusehends. Als Folge verändert sich mehr und mehr das Gefüge der Branche: Werbekontakte sind nicht länger mehr an klassische Werbeträger gekoppelt, neue Spieler im Markt versprechen ein gezielteres Targeting. Die Symptome für einen Umbruch bei Mediaplanung und Werbevermarktung werden 2012 zunehmen.

Diese Gedanken durfte ich in einem Gastbeitrag für die Dezember-2011-Ausgabe der Fachzeitschrift Media Spectrum ausarbeiten. Den Artikel können Sie hier lesen:

Gastbeitrag: Mediabranche 2012

Desintegration an den Rändern

Nur eines ist in der Mediabranche sicher: der Wandel. Auch wenn auf den ersten Blick noch vieles so bleibt, wie wir es gewohnt sind: An den Rändern verändert sich das System von Mediaplanung und Vermarktung. Die Ursachen liegen im Verhalten der Konsumenten und in den technischen Rahmenbedingungen. Das mobile Internet ist dabei der wichtigste Katalysator.

Was wird die Mediabranche 2012 beschäftigen? Ein solcher Jahresausblick steht immer in der Gefahr der Wiederholung, denn die Trends der vergangenen Jahre sind meist noch weiter am Werk. Und einige Prognosen kehren jedes Jahr so regelmäßig wieder wie die Weihnachtsstollen in die Supermarktregale. Der Blick in die Glaskugel ist schon lange keine außergewöhnliche Tätigkeit mehr, er gehört mittlerweile zu unserem Alltag. Der permanente Wandel, das ständige Auftauchen von Moden, Hypes und tatsächlichen Innovationen erschwert es uns, die relevanten Entwicklungen zu erkennen. Manche Revolutionen verkennen wir, während sich das gerade noch euphorisch bejubelte Geschäftsmodell schon wenig später als Flop herausstellt. Deswegen sollten wir hier nicht nur an der Oberfläche kratzen, sondern prüfen, wo wir bei den großen Megatrends stehen.

Das Jahr des mobilen Internets?

Seit Jahren versprechen die Verfechter des Mobile Marketings den baldigen Durchbruch des mobilen Internets – auch 2012 soll er endlich kommen. Allerdings spricht einiges dafür, dass sie diesmal nicht ganz falsch liegen. Smartphones verbreiten sich mehr und mehr unter den Deutschen, auch wenn nicht jeder Besitzer ihr ganzes Potenzial nutzt. Doch das Wissen über Apps und Location Based Services nimmt stetig zu – irgendwann wird es einen Tipping-Point erreichen und eine Eigendynamik entwickeln. Die Auswirkungen auf Mediennutzung und Einkaufsverhalten werden dann ähnlich gravierend sein wie die des Handys auf unsere Umgangsformen: Wer macht heute noch verbindliche Verabredungen, schützt seine Mitmenschen durch dicke, schallgeschützte Telefonzellen-Türen vor dem Mithören privater Gespräche oder schenkt seinem Gesprächspartner die ungeteilte Aufmerksamkeit, ohne ständig auf das Handy-Display zu schauen? Viele Verhaltensweisen, die wir vor dem Handy-Zeitalter als unmöglich angesehen haben, sind heute Alltag. Und was wir jetzt noch als Spielerei weniger Freaks ansehen, kann morgen schon in der Mitte ankommen: der Preisvergleich online direkt im Laden, das Herunterladen von Coupons oder das Einchecken und Bewerten von Restaurants, damit die Facebook-Freunde quasi mitessen können. Eine Studie von Universal McCann zeigt, wie sich die Smartphone-Nutzer langsam an die neuen Möglichkeiten herantasten. Doch die Dynamik nimmt zu, das mobile Internet ist derzeit der mächtigste Katalysator des Wandels.

Immer noch „Business as usual“

Die sozialen Medien haben schon jetzt erkennbar grundlegende Veränderungen herbeigeführt, das mobile Internet wird diese noch verstärken: Das Verschwinden der Grenze zwischen On- und Offline, zwischen Information und Kauf, zwischen privat und öffentlich. Die Diskussion darüber wird das nächste Jahr bestimmen, sowohl bei den Marketing-Experten wie auch im persönlichen Umfeld. Wie das allgegenwärtige mobile Internet die Nutzung anderer Medien beeinflusst, ist eine spannende Frage. Während die TV-Sender eher gelassen sein können – der Großteil der TV-Nutzung findet nach wie vor im heimischen Wohnzimmer statt und dort werden die Bildschirme immer größer –, so müssen die Verlage die Entwicklung genau beobachten: Das Checken des Facebook-Status, des Wetterberichts oder der Nachrichtenlage entwickelt einen Sog, dem sich viele Smartphone-Nutzer kaum entziehen können. Das ist eine Gefahr für die klassischen Zwischendurch-Medien wie Zeitschrift und BILD-Zeitung. Dass die Verlage auch als Content-Lieferanten und App-Anbieter agieren, sichert noch keine Geschäfte. Verschiebungen in der Aufmerksamkeitsverteilung und Zeitbudgetierung der Mediennutzer kündigen sich an. Und auch die älteren Zielgruppen, die man als resistent für neumodische Technikspielereien schätzte, haben mit der intuitiven Touchscreen-Benutzerführung des Tablet-Computers weniger Berührungsängste als mit Kabelwust und Tastentippen der herkömmlichen PC-Welt. Ob das iPad als kommender Rentner-PC den Verlagen nützt oder schadet, hängt dabei nicht allein von ihrer Geschäftsstrategie ab, sondern auch von den anderen Mitspielern im Markt.

Wer spielt in Zukunft alles mit?

Die klassischen Medienunternehmen waren die notwendigen Partner der Werbungtreibenden, wenn es darum ging, Zielgruppen zu erreichen. Werbung war immer an Inhalte gebunden und die Inhalte lieferten Sender und Verlage. Heute ist die Lage komplizierter, denn es spielen immer mehr bei der Werbevermarktung mit: Software-Anbieter, Suchmaschinen, Netzbetreiber, Content-Produzenten, Privatleute (etwa Blogger), Hardware-Hersteller. Der Handel mit Kontakten ist nicht mehr an Umfelder gebunden, Trends wie Cloud-Computing oder Electronic Programme Guides verstärken dies noch. Und die großen Agenturen spielen im nächsten Jahr auch verstärkt mit: Große Media-Networks haben Töchter wie Xaxis (Group M) oder Cadreon (Universal Mc-Cann) gestartet. Sie verknüpfen Nutzerdaten, Analyse-Methoden und Profiling mit Einkaufsmacht und automatisierten Selektionsprozessen zu einem mächtigen Targeting – dadurch wird die Kopplung zwischen Content und Kontakt immer lockerer. Was sich im nächsten Jahr noch in der Praxis der Onlinemediaplanung bewähren muss, kann bei Erfolg langfristig auch bei anderen Medien eingesetzt werden – die Digitalisierung von TV, Radio, Außenwerbung und Print-Inhalten macht es irgendwann möglich, ein automatisiertes, datenbasiertes Targeting auch crossmedial anzubieten. Dann müssen die klassischen Medienhäuser mit den Googles, Apples und Microsofts dieser Welt konkurrieren. Ob die Mediaagenturen noch mit dabei sind, hängt stark von ihren Technik- und Analyse-Kapazitäten ab.

Ein Jahr des Umbruchs

Das Jahr 2012 wird von Debatten und Konflikten geprägt sein, da sich das gesamte Mediasystem in einer Übergangsphase befindet. Die neue Welt – getrieben durch steigende Konsumentenmacht, digitale Technik, elektronische Nutzungs-Daten und eine völlige Emanzipation der Mediennutzung von Raum, Zeit und herkömmlichen Medienangeboten – ist nur in Ansätzen erkennbar. Die alte Welt – geprägt durch ein machtloses Publikum, starke Medienhäuser, Umfrage-Daten und starke Werbeträger – funktioniert noch ganz gut, zeigt an den Rändern aber schon deutliche Desintegrationserscheinungen. Die 2012 heftiger werdende Debatte über Medienkonvergenz und crossmediale Reichweiten ist nur ein Symptom für diese Umbruchphase, der Kult um den verstorbenen Apple-Gründer Steve Jobs, der viele Weichen für die neue Welt gestellt hat, ein weiteres. In dieser Umbruchphase machen viele Medien noch gute Geschäfte, doch eine Vision, wie Mediaplanung und Werbevermarktung der Zukunft aussehen werden, fehlt der Branche noch.