Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie

Viele forschen über Werbewirkung – mit unterschiedlichen Zielsetzungen. Wenn es darum geht, Werbewirkungsprozesse richtig zu verstehen, gibt es in der Forschung keinen Königsweg. Marktforscher Dirk Engel plädiert im OOH-Magazin für eine Vielfalt an Studien, Methoden und Modellen. Die Schwachstellen sind weniger die Interessen der Studien-Auftraggeber, sondern kompetente Umgang mit den Ergebnissen.

Dieser Artikel ist im OOH-Magazin 03/2016 erschienen. Hier können Sie das ganze Heft lesen.

Jedes Unternehmen, das Geld in Werbemaßnahmen investiert, hat ein Interesse an der Frage: Was hat meine Werbung gebracht? Dass eine Antwort darauf nicht einfach ist, ist jedem in der Branche bewusst. Nicht umsonst ist eines der am meisten zitierten Aussprüche zum Thema Werbung der folgende: „Ich weiß, die Hälfte meiner Werbung ist hinausgeworfenes Geld. Ich weiß nur nicht, welche Hälfte.“ Seit 100 Jahren werden den unterschiedlichsten Unternehmer-Persönlichkeiten diese Worte in den Mund gelegt. Doch die Unsicherheit bei Werbeinvestitionen ist in dieser Zeit nie ganz verschwunden – im Gegenteil. Heute gewinnt man nicht selten den Eindruck, mit der wachsenden Menge an verfügbaren Daten schrumpfen die Gewissheiten.

Viele untersuchen die Werbewirkung: Unternehmen, Marktforscher, Agenturen, Universitäten, Werbevermarkter und deren Verbände für Gattungsmarketing. Letztere stehen meist unter einem Generalverdacht: Die Studien der Werbevermarkter und Gattungsorganisationen haben nur das Ziel, das eigene Medium in einem guten Licht zu präsentieren – deshalb sei die Forschung von Interessen geleitet und die Ergebnisse unglaubwürdig. Diesen Eindruck kann man durchaus bekommen, wenn man die einschlägigen Fachmagazine und Online-Newsletter liest. Hier wird auf der einen Seite gern über methodische Streitpunkte zwischen Gattungsvertretern berichtet, auf der anderen Seite werden viele verkäuferische Pressemitteilungen unhinterfragt abgedruckt oder online gestellt. Doch sind die Gattungsstudien wirklich so schlecht wie ihr Ruf? Bevor wir das beantworten, werfen wir einen Blick auf die Funktion von Werbewirkungs-Studien.

Viele Werbeerfolgskontrollen haben eine klare Controlling-Funktion: Sie sollen den Marketing-Entscheidern zeigen, ob die eingesetzten Maßnahmen funktionieren. Man konzentriert sich hierbei meist auf wenige KPI’s, die meist schnell auf Marketing und Werbung reagieren. Aufgabe ist es, eine laufende Kampagne zu optimieren und etwas für künftige Kampagnen zu lernen. Schnelligkeit ist dabei entscheidend, vertiefende Analysen eher selten, Dashboards, die einen Überblick versprechen, hingegen wichtig. Außerdem soll Ex-Post überprüft werden, ob die Kampagne die gesteckten Ziele erreicht hat. Diese Werbeerfolgskontrollen liegen zu recht in den Händen der Werbungtreibenden und ihrer Agenturen und Dienstleister.

Auf der anderen Seite gibt es Studien, die unter die Oberfläche der Dashboards und KPI-Kurven blicken. Hier ist geht es darum, zu verstehen, WIE Werbung wirkt. Dabei wird oft vom Einzelfall abstrahiert: Anstatt Kampagnen schaut man sich Variablen an – die eingesetzte Mediagattung, Gestaltungselemente der Kampagne, verschiedene Werbeformen, die Höhe des Werbedrucks. Hier möchte man den individuellen Beitrag jedes möglichen Einflussfaktors überprüfen. Dafür gibt es eine Vielzahl von Methoden – psychologische Experimente, ökonometrisches Modelling, großangelegte Trackings-Studien und Meta-Analysen, welche die Daten verschiedener Studien sammeln und neu auswerten. Solche Forschung findet an Universitäten statt, manchmal auch bei Marktforschungs-Instituten. Auftraggeber oder Kooperationspartner sind selten einzelne Unternehmen, diesen fehlen die finanziellen Mittel oder das Interesse an übergeordneten Fragestellungen jenseits des eigenen Marketing-Controllings. Und gerade hier springen viele Gattungs-Organisationen ein, um den Werbemarkt verlässliche und generalisierende Erkenntnisse zu liefern.

Prinzipiell gibt es keinen Grund, Ergebnisse nur deshalb in Frage zu stellen, weil der Auftraggeber der Studie kommerzielle Interessen verfolgt. Ob man einer Studie trauen kann oder nicht, hängt von der methodischen Sorgfalt, von der Transparenz des Untersuchungs-Ansatzes und der Qualität des Studiendesigns ab. In die meisten Studien der Gattungsorganisationen wird viel Geld investiert, Experten von renommierten Marktforschungs-Instituten oder Hochschulen sind beteiligt, die Erhebungen sind sauber und zuverlässig. Bei jeder Methode gibt es allerdings Entscheidungen, die man so oder anders hätte treffen können. Eine kritische Diskussion ist wünschenswert, aber es gibt meist mehrere Wege zum Ziel, deshalb muss man die Pluralität der Methoden und Modelle aushalten – sie sollten zu einer fruchtbaren, die Erkenntnis fördernde Diskussion führen, nicht zu einem nervigen Kleinkrieg zwischen Wettbewerbern.

Jeder Werbevermarkter oder jede Organisation, die mit ihren Studienergebnissen an die Öffentlichkeit treten, müssen sich dieser offenen Diskussion stellen und die Zielsetzungen ihrer Forschung klarstellen. Sollen die Ergebnisse helfen, den Einsatz bestimmter Mediagattungen so zu optimieren, dass die Wirkungs-Chancen vergrößert werden? Oder will man den Wirkbeitrag verschiedener Gattungen miteinander vergleichen? Werden Einflussfaktoren (Kreation, Invest, Werbedruck, Mediamix, Werbeformen) untersucht? Oder soll der Erfolg der Gesamtkampagne nachgewiesen werden, unabhängig von einzelnen Maßnahmen? Viel Unzufriedenheit über Gattungs-Studien kommt daher, dass man von ihnen Antworten erwartet, auf Fragen, die in der Untersuchungsanlage gar nicht gestellt wurden. Keine Studie – und sei sie auch noch so teuer und ambitioniert – kann alle offenen Fragen klären. Doch jede Studie hilft uns, den Prozess der Werbewirkung besser zu verstehen. Damit können wir unsere Entscheidungen besser treffen.

Hier kommen wir zu einem Aspekt, der in der öffentlichen Diskussion gerne vernachlässigt wird. Damit ein Marketing-Verantwortlicher oder ein Mediaplaner die richtigen Entscheidungen trifft, benötigt er nicht nur Daten und Studienergebnisse, sondern auch ein umfangreiches Verständnis von Werbewirkungsprozessen. Er muss sich mit Modellen und Theorien, Methoden und Messungen Marktforschung und Psychologie vertraut sein. Nur so kann er eine vorliegende Publikation einer Studie kritisch beurteilen und in einen größeren Rahmen von Wissen einordnen. Das Verständnis von Werbewirkungsforschung muss also tiefer als eine Beobachtung von KPI’s. Deshalb sind auch solche Publikationen und Weiterbildungsangebote notwendig, die dem Personal in Marketing-Abteilungen und bei Agenturen das theoretische Rüstzeug an die Hand geben. Psychologisches und wirtschaftswissenschaftliches Grundlagenwissen ist nicht „nice to have“, sondern eine Voraussetzung für eine erfolgreiche Tätigkeit im Marketing. Dabei sollte niemand der Wissenschaft mit Ignoranz, Angst oder unnötigen Respekt begegnen, sondern lieber pragmatisch nach den Modellen suchen, die in der Praxis helfen können. So schrieb schon der große Sozialpsychologie Kurt Lewin: Nichts ist so praktisch, wie eine gute Theorie.

Erschienen in OOH-Magazin (Hrsg. Fachverband Aussenwerbung) 03 / 2016