Atomphysik statt Soziologie

Buchkritik:

„Warum die Reichen reicher werden und Ihr Nachbar so aussieht wie Sie“ von Mark Buchanan –  

Menschliches Verhalten kann man auf einer Makro- und auf einer Mikroebene untersuchen. Die Bücher, die Konsumentenverhalten auf einer Mikroebene beschreiben, haben derzeit Hochkonjunktur: Neuromarketingforscher beschäftigen sich nicht nur mit dem Individuum, sondern gehen sogar noch tiefer: Sie schauen sich einzelne Gehirnareale an und wie diese durchblutet werden. Ihre Bücher und Vorträge stoßen derzeit auf ein hohes Interesse beim Marketing-Publikum – die Möglichkeit, dem Verbraucher ins Hirn zu schauen, scheint zu verlockend zu sein. Die Gegenposition ist die Makro-Perspektive: Verhalten wird aggregiert untersucht und drück sich in großen Zahlen aus.


Das ist das Vorgehen der quantitativ ausgerichteten Soziologie und vor allem der Ökonomie. Die Volkswirtschaftslehre modelliert Märkte mit Hilfe von ökonometrischen Methoden, einige Forscher wenden dieses Instrumentarium auch auf alltäglichen Verhalten aus. Auch diese Forschungsrichtung produziert gelegentlich Bestseller (wie das hervorragende Buch „Freakonomics“), doch in Deutschland faszinieren im Augenblick eher die Bücher aus der Mikroperspektive. Trotzdem findet man auch in deutscher Übersetzung mittlerweile lesenswerte Bücher der Makro-Fraktion, wie Mark Buchanan „The Social Atom“.

Leider hat der Verlag bei der deutschen Version lieber den Klappentext in den Titel gepackt, als den Originaltitel zu übersetzen – deswegen heißt es nicht „Das soziale Atom“, sondern weniger elegant: „Warum die Reichen reicher werden und Ihr Nachbar so aussieht wie Sie“. Ein Titel, den man sich schon aufschreiben muss, wenn man in der Buchhandlung danach fragen will… Buchanan ist selbst Physiker und behauptet, in den Sozialwissenschaften könnte man neue Erkenntnisse gewinnen, wenn man die gleichen (mathematischen) Methoden und Modelle wie aus der Atomphysik verwendet.

Jeder Mensch verhält sich wie ein Atom und interagiert mit vielen anderen Atomen, sein Verhalten und die Wechselwirkungen lassen sich aber durch einfache Annahmen modellieren. Dadurch kann man erklären, wie Verhalten auf Makroebene funktioniert: Warum z.B. der Time Square in New York sich in wenigen Jahren von einem verdreckten, heruntergekommenen Umschlagplatz für Kriminelle in ein blühendes urbanes Zentrum der modernen Medienwirtschaft verwandelt hat.

Anders als die klassische ökonomische Forschung gehen die Forscher, die Buchanan vorstellt, aber nicht von der Fiktion eines rational handelnden „Homo Oeconomicus“ aus, sondern übernehmen auch Erkenntnisse aus der Psychologie und Evolutionsforschung, um bestimmte Verhaltenspräferenzen zu beschreiben. Diese einfachen Regeln und Motive auf individueller Ebene erklären das Verhalten von Menschen (oder „Atomen“, um im Jargon des Autors zu bleiben), zusammen mit einfachen Mustern der gegenseitigen Anziehung und Abstoßung ergibt sich dann ein beobachtbares Verhalten auf Makroebene, deren Ergebnisse durchaus den Motivationen der Individuen zuwider laufen können.

Der Klassiker dazu ist eine (schon ältere) soziologische Studie aus den USA, bei der gezeigt wurde, dass nicht Rassismus zu ethnisch einheitlichen Wohngebieten führt. Es reicht vielmehr schon aus, dass Menschen ungern in Gegenden wohnen, wo sie einer klaren Minderheit angehören – diese leichte Präferenz verstärkt sich durch Rückkopplungseffekte und führt über kurz oder lang zur Ghettobildung. Buchanans Buch gibt einen Eindruck über diese Forschungsrichtung, die er plakativ als „Sozialphysik“ und revolutionär neu bezeichnet.

Tatsächlich gibt es aber schon eine Jahrzehntelange Tradition dieser Art von mathematisch-modellierter Sozial- und Wirtschaftsforschung, die mit Physik wenig bis gar nichts zu tun hat. Die Methoden und mathematischen Modelle werden auch vom Autor nicht wirklich vorgestellt oder erläutert, weshalb man nur einen sehr oberflächlichen Eindruck über das Thema bekommt. Doch das Buch ist locker und unterhaltsam geschrieben und liefert deshalb eine angenehme Erweiterung des Horizonts: Man muss den Menschen eben nicht unbedingt ins Hirn schauen, um ihr Verhalten prognostizieren zu können.

Mark Buchanan: Warum die Reichen reicher werden und Ihr Nachbar so aussieht wie Sie – Neue Erkenntnisse aus der Sozialphysik; Campus, Frankfurt am Main 2008, 262 Seiten, ca. 24,90 €, ISBN 978-3593384566