Viren contra Wahrheit

Gerüchte und Klatsch verbreiten Internetnutzer gern. In unserer Branche heißt das „virales Marketing“. Doch die Nahtstelle zwischen Werbung und Alltagsgesprächen hat ihre eigenen Gesetze. Dazu habe ich eine Kolumne für Springer Professionals geschrieben.

2013 war das Lieblingswort der Fachpresse ‚Shitstorm‘ – ein deutscher Begriff, den man im angelsächsischen Raum nicht kennt. Das Phänomen scheint Redakteure zu faszinieren, deshalb schreiben sie eine Nachricht, wenn ein Unternehmen wegen einer peinlichen Fehlleistung Kritik abbekommt. Dabei ist oft der donnernde Shitstorm in Wahrheit nur eine leichte Flatulenz in den Windungen der Facebook-Gemeinde. Doch der Fokus auf die pathologischen Aspekte des Social Webs führt bei Entscheidern zu Verunsicherung: In der direkten Kommunikation der Menschen lauern Gefahren und Risiken. Allerdings keine neuen.

Satanismus und Sekten

Dass Konsumenten – zu Recht oder nicht – schlecht über Unternehmen reden, ist kein Phänomen des Social Webs. Gerüchte gab es schon immer und sie haben manchmal einen starken Einfluss auf die Geschäfte. Der klassische Fall war im letzten Jahrhundert der absurde Vorwurf, das größte Konsumgüter-Unternehmen der Welt stünde unter satanistischem Einfluss, weil einige Leute in deren Logo ein entsprechendes Symbol zu sehen glaubten. Und auch heute wissen einige Unternehmen, wie klebrig solche Unterstellungen sein können. Solche Gerüchte werden auch von Leuten verbreitet, die gar nicht daran glauben. Denn sie üben einen unwiderstehlichen Zwang aus, weitererzählt zu werden. Sie sind Viren des Geistes.

Von Märchen und Witzen lernen

Ethnologie, Volkskunde, Literatur- und Sprachwissenschaftler beschäftigen sich mit solchen Geistes-Viren: Gerüchte, Witze, Märchen, Sagen, Klatsch, urbane Legenden, Verschwörungstheorien – alles Dinge, die bei uns den Drang auslösen, sie weiterzutragen. Warum? Weil diese Geschichten gleichzeitig überraschend und ungewöhnlich sind, aber trotzdem unsere Vorurteile bestätigen. Der CIA hat die Mondlandung getürkt? Wer weiß, zuzutrauen wäre es denen ja… Und schon wird die Story weitererzählt. Nicht der Wahrheitsgehalt hat einen Einfluss auf die „Viralität“, sondern diese verführerische Mischung aus Überraschung und der Bestätigung unserer Werte.

Marketing-Leute versuchen, dieses Potenzial positiv zu nutzen: Sie sprechen – ungeachtet der eher negativen medizinischen Assoziationen – von „Viral Marketing“. Dabei muss man vorsichtig sein: Ob eine Werbebotschaft viral ist, hängt nicht von der Intention des Auftraggebers ab, sondern davon ob die Botschaft die Merkmale hat, die auch Gerüchte und Kettenbriefe haben. Die Viren bestimmen, ob und was weitererzählt wird – und das passt oft gar nicht zu der Art, wie sich ein Unternehmen darstellen will.

WoM ist nicht gleich Viral

Wir bewegen uns hier an der Nahtstelle zwischen Massenwerbung und zwischenmenschlicher Kommunikation. Im Englischen spricht man von Word-of-Mouth, im Deutschen von Mundpropaganda. Es ist eigentlich die Königsdisziplin des Marketings, doch auch die schwierigste – denn die Köpfe und Münder der Menschen lassen sich nicht wie TV-Werbezeit buchen. Doch ist Word-of-Mouth-Marketing heute durchaus planbar und es gibt entsprechende Instrumente. Man darf es nur nicht mit „viralen Marketing“ gleichsetzen – bei WoM-Marketing geht es darum, Konsumenten dazu zu bringen, Produkte und Marken weiterzuempfehlen. Bei „Viral Marketing“ geht es darum Botschaften zu verbreiten – doch diese Form folgt ihren eigenen Gesetzen.