Fernsehen ohne Helden

Buchkritik:

„Invasion! TV-Weltmuster erobern den Fernsehmarkt“ von Dirk Blothner & Marc Conrad – 

Amerikanische TV-Serien sind zur Zeit in Deutschland wieder beliebt, und zwar – und das ist das eigentlich Neue – sowohl bei Zuschauern wie auch den Kritikern. Zugegeben, nicht immer im gleichen Maße: „24“ ist bei positiven Kritiken erfolgreicher als bei den Reichweiten, während es bei „Desperate Housewives“ und der „CSI“-Familie eher umgekehrt ist. Doch bei „Dr. House“ oder „Grey’s Anatomy“ sind sich Kritiker und Zuschauer wie selten einig. Grund genug, einmal diese Serien zu analysieren: Was ist das besondere an ihnen? Wie unterschieden sie sich von den anderen Serien, besonders den in Deutschland produzierten, die lange Zeit das heimische Programm-Menü der großen Sender dominiert haben?


Dirk Blothner, ein versierter Filmpsychologe, nahm sich dieser fünf Serien an und zeigt mustergültig, wie tiefe Einsichten durch das genaue Hinschauen gewonnen werden. Das Einzigartige an den untersuchten Serien besteht nach seiner Ansicht darin, dass hier ein „personenunabhängiges Erzählen“ angewendet wird. Während in früheren Serien Einzelpersonen im Vordergrund standen und die Geschichten aus deren Perspektive erzählt wurden, gibt es in „CSI“, „Desperate Housewives“ und Co. ein umfangreiches Ensemble von Akteuren, deren persönliches Erleben in den Hintergrund tritt. Das gilt selbst für jene Serien wie „Dr. House“, bei denen es oberflächlich gesehen eine dominante Hauptfigur gibt. Doch diese Figuren wie der misanthropische Dr. Gregory House sind anders als die strahlenden Helden früherer Produktionen nicht der wahre Mittelpunkt des Geschehens.

Nach Blothners Analyse liefern die Serien auch noch eine Sicht auf bestimmte Aspekte der Realität, die von dem konkreten Personal unabhängig sind. Der Autor spricht hier im üblichen Morphologen-Jargon von „Sinntexturen“ und „Weltmustern“. Um es etwas platt auszudrücken: Jede Serie hat ein verstecktes Thema. Bei „Desperate Housewives“ ist es zum Beispiel die Drehung: Die Normalität kann sich in jedem Augenblick drehen, aus Liebe wird Entfremdung, aus Freundschaft wird Feindschaft, aus der heilen Welt wird der alltägliche Wahnsinn. Diese Erfahrungen macht jeder Mensch dann und wann, doch in dieser Serie werden sie ständig und überspitzt präsentiert. Bei „24“ geht es stattdessen um das ständige Anpassen des Alltags an Zufälle, Bedrohungen und Störungen, die von Außen kommen und sich durch die neuen Kommunikationstechnologien auch unmittelbar auf das Handeln der Menschen auswirken. Auch das kennen wir aus eigenem Erleben in abgeschwächter Form, die Serie übersteigert dies nur. Nach Ansicht des Autors machen gerade diese auf die Spitze getriebenen Alltagserfahrungen den Reiz der Serien aus.

Methodisch geht Blothner so vor, dass er zunächst einige Szenen und Konstellationen – meist aus den Pilotfilmen – ausführlicher beschreibt und dann versucht, das zugrunde liegende Weltmuster freizulegen. Allerdings werden dabei alternative Erklärungen zugunsten eines dominanten Weltmusters vernachlässigt. So kann man sich natürlich fragen, ob es bei „Dr. House“ wirklich um „Zauberei“ (so Blothner) geht oder vielleicht doch eher um das Ausleben der Individualität und die Grenzen, die das Arbeitsleben dafür setzt. Aber anregend und amüsant ist es auf jeden Fall, die Ausführungen des Filmanalytikers zu folgen, zumal das Buch mit 120 Seiten auch eine wenig zeitaufwändige Lektüre verspricht. Warum der Autor und sein Co-Verfasser, der TV-Macher Marc Conrad, aber die eigene Analyse ein „Pamphlet“ nennen und ihr einen reißerischen Titel wie „Invasion!“ geben, bleibt allerdings ein Rätsel. Von einer feindlichen Invasion des gutbürgerlichen deutschen Fernsehmarkts kann man bei den wenigen Serien, die auch nicht unbedingt alle zu den Top-Quoten-Rennern gehören, beim besten Willen nicht sprechen.

Ein interessanter programmatischer Gedanke wird aber im Schlusswort erwähnt: Während US-Drehbuchautoren durchaus immer die Bedürfnisse der Zuschauer und die zugrunde liegenden Wirkmuster kennen und bei ihrer Arbeit berücksichtigen, gilt in Deutschland nur dann ein Drehbuch als qualitätsvoll, wenn ein Autor die persönliche Erfahrung eines Individuums in den Mittelpunkt stellt. Abgesehen davon, ob diese Behauptung wirklich so pauschal zutreffend ist, so lohnt es sich vielleicht doch, von den Erfolgsrezepten der US-Autoren zu lernen – erst muss man bei diesen aber die wirklich wichtigen Zutaten identifizieren. Das Büchlein von Blothner und Conrad könnte Programm-Machern dabei helfen. Dem Rest liefert es zumindest eine inspirierende Lektüre, die hilft, ab und zu auch mal unter die polierte Oberfläche von Fernsehserien zu schauen.

Dirk Blothner / Marc Conrad: „Invasion! TV-Weltmuster erobern den Fernsehmarkt“, Bonn 2008, Bouvier Verlag, 120 Seiten, 14,90 Euro, ISBN 978-3-416-03127-1