Buchkritik:
„Das Ende der Schublade“ von David Weinberger –
Von mir wurden in den vergangenen Jahren über 60 Bücher für den Newsletter IMPACT der IP-Deutschland rezensiert. Auf der IP-Website kann man alle „VorGelesen“-Beiträge finden, allerdings nur im Rahmen der chronologisch archivierten Ausgaben des IMPACT-Newsletters [UPDATE 2021: Selbst das wird bald schwierig oder unmöglich, da die Website der IP Deutschland in der Seite der Ad Alliance aufgehen wird]. Das ist eine klassische Sortierung, wie wir sie aus Bibliotheken oder Ladengeschäften kennen: Es gibt ein – in sich logisches – Klassifikationskriterium und einen quasi-physischen Ort, an dem die Texte abgelegt werden (nämlich der jeweiligen IMPACT-Ausgabe). Dank des Internets gibt es aber noch andere Möglichkeiten (die auch in diesem Blog genutzt werden), Texte wie diese Buchkritiken zu klassifizieren.
Eine Sortierung nach Themenbereichen (etwa „Neuromarketing“ oder „TV-Planung“), nach Verlagen, Autoren, verwendeten Wörtern oder der Bewertung ist möglich. Man könnte auch alle Artikel in „Verrisse“ versus „Lobhudeleien“ einteilen, oder in „nützliche Bücher“ versus „verschwendete Zeit“. Oder auch in „gut geschriebene Kritiken“ und „schlecht geschriebene“. Und jeder kann seine persönliche Sortierung finden und sie – z.B. in den bei Amazon beliebten Listen – auch anderen zur Verfügung stellen.
Noch nutzen wir diese Möglichkeiten aber nicht konsequent genug. Wir denken noch viel zu oft in den traditionellen Schubladen, die uns eine Ordnung der Dinge vorgaukeln, nur weil der begrenzt vorhandene Regalplatz in den Bibliotheken und die hierarchische Baumstruktur von Bibliotheks-Katalogen eine eindeutige Zuordnung erfordern. David Weinberger, Philosophie-Professor und Internetguru, hat ein amüsantes Buch geschrieben, in dem er uns die Logik, aber auch die Begrenztheit der traditionellen Klassifikations- und Archivierungs-Systeme vor Augen führt – nur um uns zu zeigen, wie das Internet diese über den – im wahrsten Wortsinne – Haufen geworfen hat.
Denn im Internet gibt es nur einen großen Haufen von ungeordneten Informationen, die von keiner zentralen Instanz (etwa einem Bibliothekar oder einem Herausgeber-Gremiums wie den großen Enzyklopädien) ausgewählt, beschriftet und eingeordnet werden. Die „digitale Unordnung“ führt stattdessen zu neuen, flexibleren, besseren Ordnungen – die werden nämlich von den Nutzern selbst erstellt, mit Hilfe von Querverweisen und Markierungen (so genannte „Tags“), die wiederum durch Software und Suchmaschinen für jeden Nutzer individuell und sinnvoll geordnet werden.
Wer den Roman „High Fidelity“ von Nick Hornby gelesen hat, der ahnt, dass es die unterschiedlichsten Methoden gibt, seine Schallplatten-Sammlung zu sortieren. Im Internet können alle erdenklichen Ordnungssysteme gleichzeitig nebeneinander existieren. Das hat einen Einfluss darauf, wie unser Wissen entsteht, aber auch, wie wir Produkte einkaufen. Der Autor hat in dem anekdotenreichen Buch eine Vielzahl von Beispielen für alte und neue Ordnungen zusammengetragen: Von den verstaubten Warenregalen im Gemischt-Waren-Laden, über das Periodensystem der chemischen Elemente und die verschiedensten Bibliothekskataloge des 19. Jahrhunderts bis zum Online-Lexikon Wikipedia.
Dies ist zwar alles nicht uninteressant, doch ist nicht immer klar, wohin diese Lesereise gehen soll. Um die Grundideen des Buches zu begreifen, benötigt es nicht unbedingt einer auf 300 Seiten ausgebreiteten Revue der Ordnungen und Unordnungen aus 4.000 Jahren Kulturgeschichte. Wer aber gerne neue Entwicklungen in einem größeren geistesgeschichtlichen Zusammenhang sehen will, hat mit „Das Ende der Schubladen“ einen guten Zeitvertreib.
David Weinberger: Das Ende der Schublade – Die Macht der neuen digitalen Unordnung; Carl Hanser Verlag, München 2008; 312 Seiten, 19,90 €, ISBN 978-3-446-41221-7