Das Schaltbild “ von Lorenz Engell – Eine Buchkritik.
Philosophie und Fernsehen – passt das zusammen? Wahrscheinlich nicht, werden vielen denken. Die hohe akademische Philosophie widmet sich den wichtigen und erhabenen Dingen – Erkenntnis, Ethik, Wahrheit. Da scheint das Fernsehen ein eher profaner, unphilosophischer Gegenstand zu sein. Seit seiner Einführung haben nur wenige große Denker sich dem Medium gewidmet, meist um es zu kritisieren, Hans-Magnus Enzensberger sprach einst vom „Nullmedium“. Das sei falsch, meint der Film- und Medienwissenschaftler Lorenz Engell. Das Fernsehen sei ein Phänomen, das aus philosophischer Sicht spannend sei – zum Beispiel hat es unser Verständnis von Zeit geprägt. Engell lehrt Medienphilosophie an der Bauhaus-Universität in Weimar und denkt über das Thema seit Jahren nach, nun hat er seine Erkenntnisse in einem umfangreichen Buch zusammengefasst: Das Schaltbild – Philosophie des Fernsehens. Um es vorweg zu nehmen: Wer schon bei dem Titel keine leichte Urlaubslektüre vermutet, sondern eher intellektuell schwere Kost, liegt nicht ganz falsch. Das Werk ist anspruchsvoll und erwartet von den Leserinnen und Lesern nicht nur gedankliche Mitarbeit, sondern auch ein bisschen philosophische Vorbildung. Trotzdem sollte man sich davon nicht gleich abschrecken lassen. Denn der 400seitige Streifzug durch die Fernsehgeschichte, auf den der Autor sein Publikum mitnimmt, ist informativ, erhellend und manchmal sogar unterhaltsam.
Denn es vermittelt viel Wissen über die Geschichte des TV-Mediums – von seinen experimentellen Anfängen, der ersten Blüte in den USA der 50er Jahre, sein Siegeszug durch die Welt und seine Digitalisierung in der heutigen Zeit. Das geschieht allerdings nicht chronologisch, sondern entlang der Kerngedanken des Autors. Diese fernsehgeschichtlichen Fakten und Anekdoten lassen vor allem die Anfänge des Mediums lebendig werden. Wie gingen die frühen TV-Produzenten damit um, dass , alles live geschehen musste? Fernsehspeile damals ähnelten eher Theaterstücken als Hollywood-Filmen. Oder wie die Soap-Opera nach dem zweiten Weltkrieg die amerikanische Hausfrau geschaffen hat. Die auf ein weibliches Publikum ausgerichteten Endlos-Serien fesselten die Frauen (die zu Kriegszeiten noch im Erwerbsleben eingebunden waren) an ihre vier Wände in den ausufernden Vorstädten, sie propagierten ein spezielles Rollenbild und lieferten das Umfeld für Werbung jener Konsumprodukte, die dann brav im Supermarkt gekauft wurden. Erwähnenswert ist das Kapitel zur Geschichte und Bedeutung der Serie. Neben den Never-Ending-Soaps und Sendreihen mit abgeschlossenen Episoden entwickelte sich die moderne epische Serie, mit neuen Arten durch Bilder Geschichten zu erzählen. Wer das liest, versteht besser die Faszination, die diese Art von Unterhaltung derzeit auf viele Menschen ausübt.
Die Passagen über die Entwicklung des Mediums sind in Engells Buch sehr lesenswert, doch werden sie nicht in chronologischer Abfolge präsentiert. Das Buch ist eben kein Geschichtsbuch. Die philosophischen Analysen und Spekulationen, die der Autor ausbreitet, geben dem oft als seicht bezeichneten TV eine ungeahnte Tiefe. Das Zusammenspiel von technischer Entwicklung, gesellschaftlicher Situation und grundlegenden Problemen unserer Existenz wird in dem Buch immer wieder neu mit verschiedenen Schwerpunkten beschrieben. Von der Flüchtigkeit der ersten Livesendungen, die damals nicht aufgezeichnet werden konnten und die deshalb für immer verschwunden sind, bis zu dem Binge-Watching unserer Streaming-Tage, das eigentlich ein Kind der DVD-Produktion ist. Magnetaufzeichnung, Fernbedienung, die Ausbereitung auf immer mehr Bildschirme jenseits des Wohnzimmers, Digitalisierung – alle Innovationen haben einen Einfluss darauf, wie wir die Fernsehbilder und gleichzeitig die Welt sehen. Der zentrale Punkt ist dabei der Vorgang des An- und Umschaltens. Es lässt uns in den Flow der Bilder eintauchen und gibt uns gleichzeitig die Möglichkeit, der eigene Programmgestalter zu sein. Das unterscheidet TV-Bilder von Fotografien, Gemälden, sogar Kinofilmen, weshalb Engell seinem Buch den Titel „Das Schaltbild“ gegeben hat. Ältere Leserinnen und Leser werden sich vielleicht noch daran erinnern, wie in der ARD zwischen den Sendungen von einer Rundfunkanstalt zur nächsten umgeschaltet wurde – was mitunter einige Minuten dauern konnte (die Tafel mit dem Schriftzug „Wir schalten um“ war das einzige, was dann auf dem Bildschirm zu sehen war). Heute schalten wir selbst im Sekunden Rhythmus durch die Kanäle.

Das Buch sollte nicht nur als Pflichtlektüre im Ghetto medienwissenschaftlicher Proseminare dienen, sondern auch von Menschen in die Hand genommen werden, die sich beruflich mit TV in der einen oder anderen Form befassen. Selbst wenn man nicht jedem brillanten philosophischen Gedanken des Autors bei der Lektüre folgen kann, so bekommt man doch eine ganze Menge Anregungen. Zum Beispiel einmal genauer darüber nachzudenken, wie sich das Fernsehen verändert hat und wir uns mit ihm.
Lorenz Engell: Das Schaltbild – Philosophie des Fernsehens; Konstanz University Press, 2021, 432 Seiten, 38 €, ISBN 978-3-8353-9139-0
Diese Rezension erschien zuerst im Newsletter der ARD MEDIA AKADEMIE.