Fehlt dem Zeitgeist der Bezug zur Realität?

„Werbung für den Zeitgeist“ von Oliver Errichiello

Eine Buchkritik.

Warum sprechen Politfunktionäre heute eigentlich vom „Markenkern“ ihrer Parteien, während Marketing-Leute über „Haltung“ reden? Eine verkehrte Welt, in der Werber Politik und Politiker Werbung machen. Diesem Thema widmet sich das Buch „Werbung für den Zeitgeist – Wenn bunte Kampagnen in Wirtschaft und Politik die Wirklichkeit ignorieren.“ Der Untertitel fasst bereits die Grundthese zusammen. Der Autor ist Oliver Errichiello, Soziologe und Experte für Marken, er lehrt und berät Unternehmen. In seinem Buch prangert er die zunehmende Verschmelzung von Werbung und politischer Kommunikation an. Diese geht in beide Richtungen: Zum einen wird die Werbung immer politischer, zum anderen die Politik immer werblicher.



In der Marketing-Welt wurde in den letzten Jahren viel von Purpose, Haltung, Nachhaltigkeit, Green Media oder Value Media diskutiert. Unternehmen greifen aktuelle Themen und Debatten auf und positionieren sich. Ob es um Covid-Impfung, Toleranz, Diversität oder gegen die AFD geht – solche Kampagnen und Aktionen bekommen viel Lob und Aufmerksamkeit, doch meist nur in der eigenen Blase von Marketing und Medien. Markenlogos nehmen die Regenbogenfarben an – allerdings nur auf den Social-Media-Posts auf Instagram und LinkedIn und nicht im Vorort-Supermarkt. Errichiello sieht hier einen „woken“ Zeitgeist am Werk, der mit den wirklichen Bedürfnissen der Konsumenten wenig zu tun habe. Die Verbraucher sorgen sich um Inflation und die knappe Haushaltskasse. Sie erwarten von Marken keine Haltung, sondern dass die Produkte das halten, was sie versprechen. Purpose-Kampagnen zielten, so der Vorwurf des Autors, nicht auf Kunden ab, sondern nur auf die eigene Peer-Group. Sie geben den Werber ein gutes Gewissen und die Anerkennung der Branche, gehen aber an den eigentlichen Kundengruppen vorbei.

Fast spiegelbildlich ist die zweite These des Buches: Hier wird der Politik vorgeworfen, die Methoden der Werbung einzusetzen. Dabei gehe die Substanz verloren, rationale Lösungsansätze würden aus der Kommunikation verschwinden. Stattdessen herrsche das raffinierte Erzeugen von unspezifischen positiven Emotionen vor – bebildert mit gefühligem Stock-Filmmaterial mit glücklichen Familien, rüstigen Rentnern und viel Natur. Dies solle den Eindruck vermitteln, die jeweilige Partei würde die Welt irgendwie verbessern, aber ein echter politischer Diskurs fände so nicht statt. Dadurch würden Parteien so austauschbar wie die Stock-Bilder, die sie nutzen. So fügt sich beides zusammen: die missionarische Werbung der Marken und die vorgeblich empathische Politik-Kommunikation. Dem Autor erscheint das alles als Gleichklang der Meinungen, er kritisiert die Oberlehrer-Attitüde der Werber und Marketing-Strategen, die sowohl für politische und kommerzielle Zeitgeistwerbung verantwortlich seien. Er mahnt Realismus und die Rückbesinnung auf Argumente an.

Der Autor hat sicherlich zwei wunde Punkte getroffen. Denn beide Phänomene – politisierte Werbung und werbliche Politik – sind Beobachtungen, die wahrscheinlich schon jeder von uns gemacht hat. Allerdings verharrt er zu sehr in seiner polemischen Darstellung. Immer wieder werden die Klischees der „woken“ Werber mit ihrem urbanen, „hippen“ Lifestyle bemüht. Das wäre für einen schlanken Essay oder eine prägnante Keynote-Speech passend, ermüdet aber, wenn es auf mehr als 200 Seiten ausgebreitet wird. Wie so oft bei Büchern über Werbung fehlen Abbildungen völlig, wir lernen die „bunten Kampagnen“, die der Titel verspricht, nur durch Hörensagen kennen. Dadurch bleibt alles diffus und wenig analytisch oder systematisch.

Noch unklarer ist, welche Art von Werbung und politischer Kommunikation sich Errichiello eigentlich als Gegenmodell zur Zeitgeist-Werbung wünscht. Man bekommt den Eindruck, die ganzen Werte und Haltungen der Werbung bildeten nur das Weltbild der privilegierten Kreativwirtschafts-Elite ab und vernachlässige die „normale“ Bevölkerung. Das erinnert irgendwie an das gängige Motiv vom „kleinen Mann auf der Straße“, der von Medien und Politik vernachlässigt wird. Vielleicht sind die Widersprüche aber in den Köpfen von uns allen? Wollen nicht viele „normale“ Verbraucher günstige Produkte kaufen, die ein gutes Gewissen mitliefern? „Werbung für den Zeitgeist“ ist ein Buch, das vieles behauptet und einige gute Fragen stellt, aber diese nicht wirklich beantwortet.

Quelle: Oliver Errichiello: Werbung für den Zeitgeist – Wenn bunte Kampagnen in Wirtschaft und Politik die Wirklichkeit ignorieren, Langen Müller Verlag, München 2023, 237 Seiten, 22 EUR, ISBN 978-3-7844-363-8

Diese Rezension erschien zuerst im Newsletter der ARD MEDIA AKADEMIE.