Kreativität als Zwang

Buchkritik:

„Die Erfindung der Kreativität“ von Andreas Reckwitz –

Die Corona-Krise hat unsere Gewohnheiten durcheinandergewirbelt und den einen oder anderen etwas mehr freie Zeit in den eigenen vier Wänden geschenkt. Die kann man nicht nur zum Aufräumen und Bananenbrotbacken nutzen. Nun kann man sich jene Bücher heranwagen, die etwas mentale Anstrengung verlangen und deshalb in der Vergangenheit oft ungelesen im Regal gelandet sind. Wer Lust auf ein solches intellektuelle Abenteuer hat, kann zum Beispiel zu dem vor einigen Jahren veröffentlichten Werk „Die Erfindung der Kreativität“ greifen, geschrieben von dem Soziologen Andreas Reckwitz. Das Thema geht uns alle an: In der Werbe- und Medienbranche haben wir ständig mit Kreativität zu tun. Sie ist kein Hobby oder ein besonderes Talent, sondern ein Teil der alltäglichen Arbeit. Es wird von uns allen erwartet, kreativ zu sein, Neues zu erfinden, Ideen zu entwickeln, Erlebnisse zu schaffen. Das ist nicht immer einfach. Coole Ideen quasi auf Knopfdruck zu produzieren, originell zu sein, obwohl es im Grunde schon alles gibt – das ist kann zu Stress und Überforderung führen. Genau darum geht es in dem Buch von Reckwitz – dem Zwang zur Kreativität, den er das „Kreativitätsdispositiv“ nennt.

In seiner Studie beschreibt der Autor, wie sich dieses Regime des Kreativzwangs entwickelt hat. Einst war das Schöpferische nur Gott vorbehalten, später entwickelte sich der Kult um den Künstler, der stellvertretend für alle – und damit in Opposition zum immer mehr durchrationalisierten Leben – seine Kreativität auslebte. Damit stand er aber trotz aller Bewunderung am Rande der Gesellschaft, egal ob als gefeierter Malerfürst in einer durchgestylten Villa residierte oder als armer Poet in der Dachkammer hauste.

Im 20. Jahrhundert demokratisierte sich die Kunst und damit die schöpferische Tätigkeit. Emotionen, Unbewusstes, Spielerisches wurde von den künstlerischen Avantgarden aus den Galerien in den Alltag geholt. Massenmedien, Mode und nicht zuletzt die Werbung führten zu einer Ästhetisierung unserer Welt. Heute ist Kreativität zum einen ein ökonomischer Faktor, ihre Unterstützung eine politische Aufgabe für Wirtschaftsförderung und Stadtplanung geworden. Auf der anderen Seite haben wir das psychologische Phänomen, dass die Gesellschaft nicht mehr Konformität, sondern Individualität und Selbstverwirklichung erwartet. Arbeitgeber wünschen sich kreative Mitarbeiter, egal ob diese Grafiker und Architekten sind, oder Verkäufer und Sachbearbeiter.

Andreas Reckwitz analysiert in seinem inhaltlich brillanten Buch diese Situation, zeichnet ihre Entstehung nach und diskutiert die kritischen Folgen. Wer zur „kreativen Klasse“ gehört und in den Büros und Ateliers der Kreativwirtschaft arbeitet, wird in dem Buch mit grundlegenden Fragen, auch für das eigene Selbstverständnis, konfrontiert. Keine leichte Lektüre, aber gerade richtig für die Corona-Zeit und der zurzeit oft wiederholten Forderung, mit der Krise kreativ umzugehen.

Andreas Reckwitz: Die Erfindung der Kreativität – Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung; Springer Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main 2012; 408 Seiten, 20,00 €, ISBN 978-3-518-29595-3

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