Die Psychologie des Klicks

Das Fingerzucken ist heutzutage die wichtigste Körperbewegung. Denn diese kleine Regung hat große Konsequenzen. Der nervöse Zeigefinger sagt viel mehr über unsere Wünsche und Begierden aus, als uns lieb ist. Dazu habe ich für das Fachmedien-Portal Springer Professional eine Kolumne geschrieben. Hier können Sie sie lesen.

Vor mehr als dreißig Jahren hat der Neurobiologe Benjamin Libet Experimente durchgeführt, um das Bewusstsein des Menschen zu erforschen. Er konnte mit physiologischen Messmethoden feststellen, dass unser Gehirn bereits eine einleitende Nervenaktivität für ein Verhalten startet, bevor das Bewusstsein überhaupt beschlossen hat, das Verhalten auszuführen. Unser Bewusstsein hinkt also den unbewussten Verhaltensimpulsen um 200 Millisekunden hinterher.

Der menschliche Wille

Seitdem wird diskutiert, ob der Mensch überhaut einen freien Willen haben könne, wenn sein bewusster Wille nur dem Unbewussten hinterher hinke. Diese Frage stellt auch Jörg Tropp im Buchkapitel „Erkenntnistheoretische Anmerkungen zur Modernen Marketing-Kommunikation“. Um seine Experimente unter harten wissenschaftlichen Bedingungen durchzuführen, suchte sich Professor Libet das seiner Meinung nach denkbar einfachste Verhalten aus: Die Versuchspersonen mussten einen Finger ihrer Hand bewegen. Aber sollte man tatsächlich eine philosophische Debatte an das folgenlose Zucken eines Fingers knüpfen? Kann man das überhaupt Verhalten nennen?

Ohne Klick geht nichts mehr

Heute sollten wir nochmal genauer hinschauen. Denn das, was Libet damals als simple motorische Aktivität untersucht hat, ist heute viel mehr. Sie entscheidet darüber, was wir kaufen, welche Informationen wir ansehen, ob wir uns mit jemanden anfreunden oder ihn ignorieren, ob wir einen Kommentar in die Welt hinausposaunen oder besser schweigen.

Wir leben im Zeitalter des Klicks.

Ein leichtes Antippen der Mouse kann uns glücklich machen oder in Schulden stürzen. Die digitale Welt basiert auf den Zuckungen unserer Zeigefinger. Libets Labor-Untersuchung ist zum riesigen Feldexperiment geworden: Das Internet registriert Milliarden von Fingerbewegungen. Wer kennt noch „Was bin ich?“, das Berufe-Raten im TV, bei dem die Gäste eine für ihren Beruf typische Handbewegung machen mussten? Heute würden die meisten einfach nur noch mit dem Finger tippen.

Die Standleitung zu unseren Begierden

Unser Gehirn „weiß“ bereits 200 Millisekunden vor unserem Bewusstsein, dass wir gleich auf etwas klicken werden. Es gibt unserem Zeigefinger schon einen entsprechenden Auftrag. Das Zeitfenster, in dem wir diese unbewusste Entscheidung willentlich korrigieren können, ist denkbar gering. Im Grunde ist der Klick eine nahezu automatische Verlängerung unserer unbewussten Entscheidungsfindung: Die Standleitung zu unseren Wünschen. Von der spontanen neuronalen Aktivierung bis zur Handlung gibt es kaum Barrieren. Wir müssen nicht aufstehen, nicht sprechen, nicht unterschreiben.

Nur 200 Millisekunden

Nun wird klar, warum selbst bei Qualitäts-Medien die Inhalte, bei denen es um Sex und Gewalt geht, die meisten Abrufe bekommen. Warum Menschen bei Ebay Waren zu einem überhöhten Preis kaufen. Warum beleidigende Kommentare abgesendet werden, die man niemanden offen ins Gesicht sagen würde. Warum Websites wie heftig.co erfolgreich sind. Warum in Facebook so viele Likes unter Bildern von Katzen oder Mahlzeiten zu finden sind. Das Internet zeigt uns, was wir spontan begehren, und unser Vernunft-Ich hat nur einen Augenblick Zeit, einzuschreiten. Die für Werber ernüchternde Erkenntnis: Diese 200 Millisekunden reichen aber immer noch aus, dass 99,9 Prozent der User einen Werbebanner NICHT anklicken. Wir können also der Weisheit unseres Unbewussten gelegentlich vertrauen.

Veröffentlicht am 7. Mai 2015 auf springerprofessional.de