Ist das Werbeprospekt in der Krise?

Auch wenn Verbraucher mehr und mehr digitale Einkaufshilfen nutzen, bleibt das Prospekt für die Marketing-Kommunikation des Handels weiter unverzichtbar. Das erläuterte ich in einem Interview für die Lebensmittel Zeitung. Dabei wagte ich auch den Blick in die Zukunft – selbst in einer digital diversifizierten Handelswelt wird Print-Werbung eine Platz haben. Das Interview können Sie hier vollständig lesen (inklusive einer Anmerkung zu einer aktuellen Studie, deren Ergebnisse kontrovers interpretiert werden).

Außerdem gibt es hier das PDF der Original-Veröffentlichung:

Interview aus der Lebensmittel Zeitung vom 11. Februar 2022 (Ausgabe 06/2022, S. 45)

„Nicht jede App wird regelmäßig genutzt“

Marktbeobachter Dirk Engel über digitale Werbung, gedruckte Prospekte und stark fragmentierte Online-Kanläe

Das Interview führte Guido Schneider

Für viele Händler stehen gedruckte Prospekte und Beilagen weiterhin im Zentrum ihrer Angebotskommunikation. Werden sie die Rolle dieses Werbemittels in ihrem Mediamix angesichts des Digitalisierungsschubs durch die Corona-Pandemie, Lieferengpässen und aktuell stark steigenden Papierpreisen neu bewerten müssen?

Händler sind kühle Rechner. Natürlich werden Maßnahmen überprüft, wenn sich die Kosten erhöhen. Entscheidend ist aber das Kosten-Leistungs-Verhältnis. Bringen gedruckte Prospekte Umsatz? Wie sieht es mit digitalen Maßnahmen aus? Erfahrungsgemäß bemerken Handelsunternehmen sehr schnell, ob eine Werbemaßnahme funktioniert. Digitale Werbung kann bisher gedruckte Handelswerbung nicht ersetzen. Die digitalen Kanäle sind auch viel fragmentierter – man muss eine ganze Reihe aufwendiger Aktivitäten betreiben (Social Media, digitale Prospekte, Mobile Apps, Suchmaschinen und so weiter). Sicherlich werden Budgets verschoben und vielleicht auch in Zeiten von hohen Papierpreisen mehr im Digitalen ausprobiert. Eine Abkehr vom Prospekt sehe ich aber nicht.

Wie stark verschiebt sich die Nutzung der Angebotswerbung von Print zu den digitalen Plattformen und den Owned-Kanälen des Handels?

Schaut man auf die Verbraucher, gibt es ein sehr vielschichtiges Bild. Natürlich nutzen Kunden die Möglichkeit, durch digitale Kanäle einen direkteren Kontakt zu Händlern zu pflegen. Viele dieser Kanäle incentivieren die Nutzung, z. B. durch Rabatte, Gewinnspiele oder E-Coupons. Das ist das klassische Problem der extrinsischen Motivierung: Sie baut keine Loyalität auf, sondern man bezahlt den Nutzer dafür, dass er die digitalen Kanäle nutzt. Und nicht jede heruntergeladene App wird auch regelmäßig genutzt, zumal man meist mehr als eine Handels-App hat. In vielen Bevölkerungsschichten ist hingegen der Umgang mit gedruckter Handelswerbung routinisiert und ritualisiert. Sie wird nach wie vor geschätzt und bisher gibt es keine einzelne digitale Alternative, die eine ähnliche Dominanz erreichen könnte.

Führt die Zunahme von digitalen Angeboten dazu, dass der Handel mehr Budget benötigt, um mit seiner Angebotswerbung alle relevanten Zielgruppen zu erreichen?

Grundsätzlich erhöht die Zahl der Kommunikationsmöglichkeiten den Aufwand – es wachsen also schon einmal die Transaktionskosten. Hinzu kommt – wie ich eben erklärt habe – die Tendenz, dass eine extrinsische Motivierung eher die intrinsische Kundenbindung schwächt: Der Kunde schaut, wo er die besten Preisaktionen findet. Deshalb werden sich die Kommunikations- und Marketing-Kosten sicherlich nicht verringern, eher steigen Sie. Das wird auch befeuert durch neue Wettbewerber, wie Lieferdienste und Online-Shops. Sie können anfangs bestimmte Kundensegmente leicht digital abholen – junge, berufstätige Menschen, die sowieso schon vieles digital erledigen. Doch wenn diese neuen Player wachsen wollen, werden sie noch mehr zu nicht-digitalen Werbemaßnahmen greifen müssen. Und der Wettbewerb um Aufmerksamkeit erfordert von allen eher mehr als weniger Investitionen.

Die Verteilung von Prospekten und Beilagen leidet unter den steigenden Logistik- und Zustellkosten, weshalb die Verbände der Zeitungen und Anzeigenblätter die flächendeckende Zustellung in Gefahr sehen. Wenn sie dem Handel wichtig ist, muss er dann höhere Preise zahlen?

Höhere Preise bei hart kalkulierenden Händlern durchzusetzen, ist nicht einfach. Es sind aber nicht nur die Kosten, sondern das Preis-Leistungs-Verhältnis, was entscheidend ist. Solange das stimmt, werden die Handelsunternehmen auch in erfolgreiche Maßnahmen investieren. Allerdings werden die Ansprüche der Händler noch größer werden, denn sie reagieren wiederum auf die wachsenden Ansprüche ihrer Kundinnen und Kunden. Öko-ethische Aspekte gewinnen in der Bevölkerung an Bedeutung, auch in den Segmenten, die klassische Discount-Kunden sind.

Heißt konkret?

Arbeitsbedingungen, Mindestlohn, Klimaneutralität, Ressourcen-Verschwendung und Müllvermeidung – alles Themen, auf die Konsumenten verstärkt achten. Das wird zu einer Verteuerung auf allen Ebenen führen – wie sich Händler, Werbedienstleister, Hersteller und Verbraucher diese Mehrkosten teilen, ist die spannendste Frage in den nächsten Jahren und Jahrzehnten.

Glaubt man der Initiative Digitale Handelskommunikation, dann spricht alles für die digitalen Kanäle, weil die kurzfristiger, flexibler und mit viel weniger Streuverlusten einsetzbar sind. Ist es nur eine Frage der Zeit, ehe das bestehende printdominierte System der Handelswerbung zugunsten von Online kippt?

Die genannte Initiative argumentiert sehr einseitig, in ihren Social-Media-Posts werden pauschale Schlussfolgerungen getroffen, die in den zugrundeliegenden Studien so nicht zu finden sind. Natürlich profitiert Werbung von der Digitalisierung – aber das gilt auch für die sogenannten klassischen Medien. Connected TV, digitale Plakatstellen und Screens, selbst Gedrucktes wird durch digitale Techniken flexibler einsetzbar, genauer regional und zielgruppenspezifisch aussteuerbar und schneller produzierbar. Das printdominierte System, wie Sie es nennen, wird sicherlich von Jahr zu Jahr schwächer, aber von Kippen kann keine Rede sein. Ein notwendiges digital-steuerbares Multi-Kanal-System existiert noch nicht – wenn es da ist, wird dort aber auch gedruckte Werbung integriert sein.

Lange Zeit hieß es, dass sich gedruckte Prospekte als Push-Instrument für Haushaltswerbung eignen, während Online die Pull-Funktion übernimmt. Ist diese Aufgabenteilung noch passend, wenn sich Verbraucher von ihren Lieblingshändlern oder von Prospektportalen via Push-Mail über Angebote informieren lassen können?

So einfach ist die Einteilung nicht. Viele Verbraucher holen sich selbst Prospekte im Supermarkt ab, während man auch Push-Nachrichten auf dem Smartphone ausschalten, stummstellen oder locker ignoriert kann. Die Zuordnung von Pull- und Push-Funktionen zu einzelnen Medien ist nicht mehr zeitgemäß, Kanäle müssen viel differenzierter im Hinblick auf ihre Funktion im Kaufentscheidungsprozessen der Konsumierenden beurteilt werden.

Die großen Handelsmarken verfügen über vielgenutzte Websites und Apps sowie reichweitenstarke Social-Media-Auftritte, in denen Kunden auch individualisierte Angebote nutzen können. Machen diese Owned-Kanäle den Einsatz von Prospektportalen perspektivisch überflüssig?

Sie machen sie nicht überflüssig, aber sie verhindern den Aufbau einer Dominanz, wie sie die gedruckte Handelswerbung in der Vergangenheit hatten. Das elektronische Prospekt wird das gedruckte nicht komplett ersetzen, sondern nur eines von vielen Kanälen der digitalen Werbung sein. Wenn in der Zukunft dank digitaler Technik individualisierte Prospekte dezentral ausgedruckt werden, gehört auch Printwerbung zu diesem Konzert der digitalisierten Kanäle.

Welche aktuelle Entwicklung sehen Sie noch?

Es werden neue Werbeformen hinzukommen, die wir uns im Augenblick noch gar nicht vorstellen können – interaktive Digital-Out-of-Home-Werbung, Augmented Reality, personalisierte TV-Spots, Werbebotschaften in autonom fahrenden Autos, vielleicht sogar Service-Roboter oder -Drohnen, die Einkäufe direkt nach Hause bringen – und bestellt wurden sie über Smart Speaker, intelligente Kühlschränke oder vielleicht sogar vom Produkt selber (das durch ein Smart Package in der Lage ist, automatisch Nachschub zu bestellen, wenn der Inhalt zur Neige geht). Das die Handelswerbung der Zukunft digital sein wird, steht nicht in Frage. Prospektportale werden allerdings irgendwann zu einem Anachronismus, vielleicht sogar schneller als das gedruckte Prospekt.

Es gab kürzlich heftigen Widerspruch aus der Branche, als eine Studie des EHI die Vorherrschaft des Prospekts für beendet erklärt hat, weil in diesem Jahr nach seiner Prognose erstmals mehr Bruttowerbegelder in so genannte digitale Medien als in printbasierte Handelsmedien fließen sollen. Was sagen uns solche Auseinandersetzungen über den Stand der digitalen Transformation der Handelswerbung?

Die Aussage ist nicht ganz richtig, der „Marketingmonitor Handel 2021 – 2024“ spricht von additiven Medien – additiv werden sie deshalb genannt, weil sie Printwerbung ergänzen. Diese additiven Medien sind nicht nur digital, sondern auch traditionelle Werbeträger wie TV, Radio, Plakate, Instore-Werbung und Direktmarketing. Diese Werbeträger wurden in den vergangenen Jahren stärker eingesetzt – denken Sie nur daran, dass die Discounter heute viel TV-Werbung machen, was früher nicht der Fall war. Richtig ist also eine Fragmentierung der Werbemaßnahmen, bei denen digitale Medien ein Teil sind – der übrigens in sich nochmal sehr fragmentiert ist. Ohne die Bedeutung von Smartphone, Social Media und Suchmaschinen im Leben der Verbraucher schmälern zu wollen – eine komplette Digitalisierung der Handelswerbung sagt auch die EHI-Studie nicht voraus. Das ist eher Wunschdenken der „Initiative Digitale Handelskommunikation“, deren Initiatoren Angebote vertreten, die selbst innerhalb der Digitalmedien nur eine Randerscheinung sind.

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