Ist Realtime die echte Zeit?

Dank Digitalisierung wird Marketing wird immer rasanter. Werbung und andere Maßnahmen werden in „Echtzeit“ automatisch optimiert. Es scheint, als ob nur noch die Gegenwart zählt. Doch kann Marketing ohne Zukunftsplanung funktionieren? Zu diesem Thema habe ich für das Wirtschafts-Portal Springer Professional eine Kolumne geschrieben, die Sie hier lesen können.

Wir stehen am Anfang eines neuen Zeitalters – des Realtime Marketings. So können wir es in vielen Fachmedien-Kommentaren lesen. Und die Idee ist beeindruckend: Die zunehmende Digitalisierung (die künftig noch viel weiter in unsere Wohnstuben und Ladengeschäfte vordringen wird) ermöglicht unmittelbares Feedback und ungeahnte Optimierungsmöglichkeiten. Werbung kann passgenau ausgesteuert werden, Motive und Botschaften situationsabhängig und individuell angepasst. Krücken wie die Mediaplanung nach Umfeld oder psychografische Zielgruppenmodelle sind überflüssig, denn das Marketing kann das Individuum erkennen, ansprechen und sofort den Erfolg messen.

Realtime-Advertising verändert den Markt

Aber was bedeutet Realtime (etwas holprig ins Deutsche mit Echtzeit übersetzt) eigentlich? Es ist ein anderes Wort für Geschwindigkeit. Reiz und Reaktion folgen fast unmittelbar aufeinander und werden digital abgebildet. Und jede Maßnahme lässt sich sofort auf Basis dieser Echtzeit-Informationen verändern, optimieren, maximieren. Bei dieser Schnelligkeit kommt kein Mensch mehr mit, weshalb das Realtime-Marketing Automation und Algorithmen einsetzt. Ganze Kaskaden von Marketing-Aktivitäten laufen automatisch ab – jetzt, in diesem Augenblick. Alles passiert in der Gegenwart. Müssen wir dann noch über Vergangenheit und Zukunft nachdenken?

Marktforschung ist Vergangenheit

Das Marketing ist keine historische Wissenschaft, trotzdem war der Blick in die Vergangenheit üblich. Denn Daten lagen bisher immer nur ex-post vor. Ihre Analyse erlaubte Schlussfolgerungen, die Richtlinien für künftige Entscheidungen gaben. Die Realtime-Propheten sehen abfällig auf diese Vergangenheits-Daten herab: Im Zeitalter des Realtime-Marketings braucht man keine „herkömmliche“ Marktforschung mehr. Der Blick in die Vergangenheit wird überflüssig.

Doch wie sieht es mit dem Blick in die Zukunft aus? Marketing-Planung bezieht sich immer auf künftige Maßnahmen. Und wenn die Maßnahmen dann tatsächlich laufen, wenn die Kampagne „on air“ oder online ist, zielen sie immer noch auf die Zukunft – nämlich auf das künftige Verhalten der Menschen. Doch die treffen ihre Entscheidungen meist nicht in Echtzeit. Auch der Konsument benötigt Planung: Er schreibt vor dem Einkaufen einen Einkaufszettel, diskutiert mit der Familie über den nächsten Urlaubsort und wägt ab, wann er sich ein neues Auto leisten kann. Und viele dieser Entscheidungen werden von der Vergangenheit beeinflusst – die früheren Produkterfahrungen, das Markenbild, das sich über viele Jahre im Gedächtnis verankert hat, Informationen, die vor längerer Zeit einmal gelesen wurden.

Marketing braucht Zukunft und Vergangenheit

Die Aufgabe des Marketings ist es, vorauszudenken und die Zukunft zu gestalten. Denn ein Markenimage baut sich nur langfristig auf. Wer es verändern will, muss Strategien entwickeln, sich langfristige Ziele setzen und Maßnahmen planen, deren Erfolg nicht unmittelbar messbar ist.

Manchmal ist das ein stetiges Bohren dicker Bretter. Schon jetzt haben wir das Problem, dass viele Marketing-Manager zu kurzfristig denken, vor allem, weil sie an den Quartalsergebnissen gemessen werden. Realtime-Techniken bergen die Gefahr, dass diese Kurzsichtigkeit überhandnimmt. Die Aufgabe der nächsten Jahre besteht nicht daran, die Geschwindigkeit zu erhöhen, sondern die Taktik der Technik und die strategischen Visionen in eine Balance zu bringen. Die Echtzeit der Algorithmen ist nicht die reale Zeit, in der Marken und Menschen ticken. Um das zu verstehen, ist auch zukünftig der analysierende Blick in die Vergangenheit notwendig.

Veröffentlicht am 14. September 2015 auf springerprofessional.de