Die Vermessung der Deutschen

Buchkritik:

„Wie wir Deutschen ticken“ von Christoph Drösser –

Es ist ein Bilderbuch der besonderen Art. Das Marktforschungs-Institut YouGov wollte den Alltag und die Einstellungen der Deutschen erfassen und führte 80 repräsentative Umfragen durch. Die Ergebnisse wurden als nette Grafiken in ein Buch gepackt, das verspricht, aufzuzeigen wie die Deutschen ticken. Die schiere Fülle der Daten ist beeindruckend. Schön alphabetisch geordnet von A wie „Abend“ bis Z wie „Zeit“ werden hunderte von Zahlen präsentiert.

Statt Diagramme oder Tabellen gibt es Grafiken im Piktogramm-Stil – ähnlich jener Art von Bildchen, die im Internet als „Info Graphic“ bezeichnet werden und zum Weiterleiten anregen sollen. Das Themenspektrum reicht von banal bis heikel, auch Religion und Sex werden nicht ausgespart. Manchmal gibt es auch überraschende Befunde: Hätten Sie gedacht, das 17% der Männer und 24% der Frauen die Frage bejahen: „Manchmal wäre ich gerne vom anderen Geschlecht“? Oder dass 26 % der Männer in ihrem privaten Umfeld manchmal um Geld spielen? Oder dass 32% der Deutschen meinen, es gäbe Situationen im Leben, da helfe nur körperliche Gewalt weiter.

Das Buch liefert eine kurzweilige Revue an Fakten, ideal zum Blättern oder um einzelne Zahlen zum Zitieren zu finden. Eine amüsante und interessante Lektüre. So weit, so gut. Nun seien aber ein paar grundsätzliche Anmerkungen erlaubt. Das Buch ist ein Beispiel für eine Tendenz, Zahlen und Forschung aus dem Zusammenhang zu reißen und lediglich als Kuriositäten zu betrachten. Es erinnert eher an typische Geschenkbücher wie „Das Handbuch des unnützen Wissens“.

Die präsentierten Daten werden kaum analysiert – wenn überhaupt, werden die Merkmale nur nach Männern und Frauen oder Bundesländern aufgeteilt. Kreuztabellierungen sind selten, die erläuternden Texte fügen keine Informationen oder Interpretationen hinzu, kaum eine Grafik, die einen verborgenen Zusammenhang deutlich macht. Das Internet liebt solche kontextlosen Zahlen und rein illustrierende Grafiken, die zwar witzig aussehen, aber den Daten keinen neuen Aspekt abringen. Es gibt auch keine Aha-Effekte durch die Konfrontation unterschiedlicher Daten, so wie es das Magazin Brand Eins mit seiner Rubrik „Die Welt in Zahlen“ schafft. Ein internationaler Vergleich hätte auch geholfen, die Deutschen wirklich besser zu verstehen.

Die YouGov-Zahlen sind gut zum schnellen Konsum, zum Teilen und Weiterleiten. Wie die Deutschen ticken, erfährt man aus ihnen nicht. Ein Marktforschungs-Institut sollte eigentlich hier unter die Oberfläche schauen. Auch über die Methode erfährt man kaum etwas. Neil Postman erkannte schon vor über 30 Jahren, dass Wissenschaft und Forschung von den Medien nur aufgegriffen werden, wenn sie den Kriterien der Unterhaltungsindustrie entsprechen. „Wie die Deutschen ticken“ ist eher Entertainment-Fast-Food als ein Sachbuch.

Christoph Drösser: Wie wir Deutschen ticken – Wir wir denken, was wir fühlen, wer wir sind; YouGov / Edel Books, Hamburg 2015, 192 Seiten, 19,95 €, ISBN 978-3-8419-0346-4