Gegengift für digitale Pessimisten

Buchkritik:

„Erfindet euch neu!“ von Michel Serres –

Die meisten von uns sind Menschen des letzten Jahrtausends. Geboren im 20. Jahrhundert, wuchsen wir auf mit zwei bis drei Fernsehprogrammen, Schallplattenspielern und Telefonen mit Wählscheibe. Heute sind wir in Amt und Würden, haben gute berufliche Positionen und sind dabei mit einem neuen Phänomen konfrontiert: Die sogenannten Digital Natives. Die jüngere Generation, der wir etwas verkaufen wollen oder die wir als Mitarbeiter einstellen, ist in einem völlig anderen Medienumfeld aufgewachsen wie wir selbst. Das scheint sie geprägt zu haben – in vielen Verhaltensweisen unterscheiden sie sich von uns. Manches davon amüsiert oder irritiert uns, gelegentlich sind wir sogar verunsichert. Wie Zoologen neue, unbekannte Insekten-Spezies beäugen, versuchen wir zu verstehen, was die jungen Digitalen umtreibt. Daraus ergibt sich die übliche Wissensproduktion von Büchern, Ratgebern, Kongressen, Vorträgen und Studien. Dabei sind die üblichen Kulturpessimisten, die von der fortschreitenden digitalen Demenz sprechen und die Ich-Bezogenheit der Generation Y und Z betonen.

Wer zu dem kritischen Befürchtungen über die digitale Jugend ein Gegengift braucht, dem sei ein kleines, schmales Bändchen empfohlen: „Erfindet Euch neu!“ ist ein schon vor einigen Jahren herausgegebenes kurzes Buch des französischen Philosophen Michel Serres. Er ist heute mit seinen 87 Jahren weit von den Digital Natives entfernt. Trotzdem hat er eine „Liebeserklärung an die vernetzte Generation“ (so der Untertitel des Buches) geschrieben. Der greise Gelehrte kennt die Generation aus dem Hörsaal und durch seine eigenen Enkel. Das macht seinen Blick milde und wohlwollend – bei Serres ist nichts von Kulturpessimismus zu finden.

Im Gegenteil: Er bewundert die jungen Leute, die er liebevoll »Petite Poucette«, kleine Däumlinge nennt, weil sie ständig mit ihren Daumen auf Smartphones tippen und wischen. Verhaltensweisen, die andere Ältere als nervig wahrnehmen (etwa das ständige Abgelenktsein oder Plappern im Hörsaal), wird von Serres als authentischer Ausdruck eines neuen Bewusstseins gesehen. Informationen haben eben eine andere Bedeutung in einer Zeit des ununterbrochenen Zugriffs.

Die „nervigen“ Marotten der Jungen sind Symptome, wie diese Veränderungen in Widerspruch geraten zu den traditionellen Institutionen wie Schule, Universität oder Wirtschaftsunternehmen. Serres verlangt nicht, wie viele andere Hochschullehrer, dass sich die Jungen an die alten Institutionen anpassen. Vielmehr fordert er sie auf, sie zu verändern, sie fit zu machen für das neue, vernetzte und digitalisierte Denken im 21. Jahrhundert.

Sein sicherlich etwas unkritisches und manchmal schon sentimental anmutendes Traktat hat dem großen Medien- und Kommunikationstheoretiker einigen Spott und Kritik eingebracht. Doch man sollte es als das nehmen, was es ist: Ein kurzer Denkanstoß, der uns vielleicht eine neue Perspektive auf die Digital Natives eröffnet. Aufgrund der an Metaphern reichen Sprache, den wenigen Seiten und des günstigen Preises ist es auch ideales Geschenkbuch. Wenn sich demnächst mal wieder jemand über das seltsame Verhalten seiner Kinder, Studenten oder Praktikanten beklagt, drücken Sie ihm oder ihr „Erfindet Euch neu!“ in die Hand.

Michel Serres: Erfindet euch neu!: Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation; Berlin 2017, Edition Suhrkamp, 70 Seiten, 8 €, ISBN 978-3 5180-711-75