Erforschen, was mir durch den Kopf geht

Buchkritik:

„Dialogische Introspektion“ von Gerhard Kleining u.a.

Im Folgenden wird eigentlich kein Buch vorgestellt, sondern eine sozialwissenschaftliche Methode. Das dazugehörige Buch erläutert und demonstriert diese Methode, seine Lektüre ist dementsprechend weder besonders unterhaltend noch nah an der Berufspraxis, trotzdem ist sie lohnenswert. Denn die Methode, um die es hier geht, hat eine hohe Relevanz für die angewandte Marktforschung und sollte deshalb bekannter werden.

Es geht um die sogenannte Dialogische Introspektion, ein Verfahren, das eine methodische Verbesserung gängiger Gruppendiskussionen ist. In der alltäglich angewandten qualitativen Marktforschung werden Begriffe nicht immer sauber verwendet: Was viele Agenturen und Institute etwa als Tiefeninterview verkaufen, hat mit einem psychologischen Interview mit sorgfältiger tiefenpsychologischer Analyse wenig zu tun. Und als „Focus Group“ wird auch alles angesehen, bei dem Menschen zusammen kommen – von einer Gruppenbefragung bis zum Brainstorming mit Kollegen.

Die dialogische Introspektion knüpft hingegen an eine alte Wissenschaftstradition an: Im 19 Jahrhundert haben die ersten akademischen Psychologen die Methode der Introspektion genutzt – eine präzise Beobachtung des eigenen Erlebens und dessen detailreiche Beschreibung. Irgendwann bekam dieses Verfahren jedoch den Ruf, dass es zu subjektiv und unwissenschaftlich sei, weshalb sich die Psychologen auf vermeintlich objektivere Methoden zuwandten, etwa Mäuse durch ein Labyrinth zu schicken und mit der Stoppuhr daneben zu stehen. Die Autoren des hier besprochenen Buches, alles Mitglieder einer losen Forschungsgruppe, haben die Introspektion aus der Mottenkiste geholt und versuchen, sie inter-subjektiv vergleichbarer zu machen.

Dies geschieht durch ein Gruppen-Setting. Zwischen 5 und 15 Personen bekommen eine Aufgabe, etwa ihre Gefühle beim Anschauen eines Werbespots zu beobachten. Danach schreibt jeder einzeln seine Erfahrungen auf, die dann in der Gruppe vorgetragen werden. Die Berichte der anderen Probanden sollen eine kritische Reflexion der eigenen Erfahrung anregen, wodurch neue Aspekte und Details ans Tageslicht gebracht werden. Dabei sollen keine Berichte kommentiert oder bewertet werden – ein Moderator sorgt dafür, dass diese Spielregeln eingehalten werden. Der Vorteil dieser Methode gegenüber einer Gruppendiskussion: Die spezielle Dynamik und die Hierarchien der Gruppensituation werden ausgeschaltet.

Der Vorteil zu Einzelinterviews: Die dialogische Reflexion über die Berichte der anderen schärft den Blick für das eigene Erleben. In kurzer Zeit werden dabei viele wertvolle Erkenntnisse gesammelt, die einer intensiven Analyse zur Verfügung stehen. Gruppendiskussionen sind gut, wenn sie Phänomene öffentlicher Meinung erforschen: Dazu gehören z. B. auch das Image eines Unternehmens oder Kaufentscheidungen, die meist ja im Zusammenspiel mit anderen Haushaltsmitgliedern oder Bezugsgruppen vonstatten gehen. Doch das individuelle Erleben von Gefühlen, Gedanken, spontanen Assoziationen, Motiven und inneren Handlungen wird durch ein introspektives Verfahren ohne Gruppendruck besser erhoben. Der Band erläutert die Methode an praktischen Beispielen, verortet sie in der Theorie- und Methodenentwicklung und zeigt auch, wie die Daten analysiert und interpretiert werden.

Auch wenn es nicht direkt um Marktforschung geht, so liegt der Wert für die angewandte Markt-, Medien- und Werbeforschung doch auf der Hand. Es wäre wünschenswert, wenn die Dialogische Introspektion mehr Aufmerksamkeit in der Marktforschungswelt bekommt.

Thomas Burkart / Gerhard Kleining / Harald Witt: Dialogische Introspektion: Ein gruppengestütztes Verfahren zur Erforschung des Erlebens; VS Verlag, Wiesbaden 2010, 230 Seiten, 34,95 €, ISBN 978-3-531-17165-4