Selbsterkenntnis durch Big Data

Buchkritik:

„Dataclysm“ von Christian Rudder –

Big Data – das Thema hat schon lange den Sach- und Fachbuch-Markt erreicht. Mittlerweile gibt es eine Vielzahl von Titeln, die sich grob in zwei Kategorien einteilen lassen: Zum einen gibt es jene Bücher, die den Wert von Daten-Analysen für Unternehmen herausstellen. Sie versuchen, eine Goldgräber-Stimmung zu verbreiten. Die Autoren sehen sich als Propheten des Big-Data-Zeitalters, in dem das Geld nur so auf der Straße liege. Die andere Kategoire umfasst Bücher aus der kulturkritischen Ecke, die alle vor den Gefahren einer Welt warnen, in denen Staat und Konzerne unsere Daten horten, um uns zu kontrollieren.

Das englischsprachige Buch, was ich heute vorstellen möchte, passt aber in keine der beiden Kategorien. „Big Data“ ist nicht sein Thema, sondern seine Basis. Es zeigt, wie man Daten-Analysen nutzen kann, um mehr über uns Menschen und unser Zusammenleben herausfinden kann – und zwar gerade die Aspekte, die wir nicht gerne zugeben oder selbst gar nicht bemerken, deshalb der Untertitel „Who We Are (When We Think No One’s Looking)“. Auch Soziologen und Volkswirtschaftler versuchen seit 150 Jahren mit Hilfe von Statistiken und Zahlen unsere Gesellschaft zu erforschen. Wo sie aufhören, fängt Christian Rudder an. Als Mitgründer von OKCupid, einer der größten Online-Partnerbörsen der USA und Vorbild für Parship & Co., hat er riesige Datenmengen zur Verfügung, die normalerweise nur zur Optimierung der Website und aus Marketing-Gesichtspunkten analysiert werden.

Als Nebenprodukt nutzt Rudder die gleichen Daten, um Fragen zu erforschen, auf die man in Umfragen meist keine ehrlichen Antworten bekommt: Auf was achten Männer und Frauen bei der Partnerwahl? Sind wir latent Rassisten? Haben wir Vorurteile gegenüber ethnischen Gruppen? Wird heute mehr geschrieben als früher? Wo wird Homosexualität unterdrückt und wo toleriert? In einem eher saloppen Stil und einer gewissen Sorglosigkeit wagt sich der Autor an seine Themen. Er verzichtet auf das Wälzen von Sekundärliteratur und hört nur, was die Datenbanken seines Dating-Portals zu sagen haben.

Mit zum Teil erfrischend einfachen Methoden vergleicht er die Attraktivitäts-Bewertungen verschiedener Gruppen oder zählt aus, welche Wörter die Dating-Kunden verschiedener ethnischer Minderheiten zur Selbstbeschreibung benutzen. Ergänzt wird dies mit Analysen frei zugänglicher Daten von Twitter oder Google. Alleine schon die Vorschläge, die Google automatisch macht, wenn man anfängt, eine Suchanfrage einzutippen, liefern ihm Material genug, um die Vorurteile der Amerikaner aufzudecken. Die so zutage geförderten Ergebnisse sind nicht alle gleich interessant oder plausibel, doch eines kann man aus der Lektüre lernen: Unabhängig von dem eigentlichen Grund, warum Daten erhoben werden – aus ihnen lassen sich durch geschickte Analysen neue Erkenntnisse gewinnen.

Das Vorgehen widerspricht ein bisschen dem, was wir in Wissenschaft und Marktforschung als Ideal ansehen, doch die Ergebnisse können spannend und überraschend sein. Das Buch ist eine Einladung, sich auf Big Data einzulassen – auch wenn die Ergebnisse für unser Selbstbild peinlich werden können.

Christian Rudder: Dataclysm – Who We Are (When We Think No One’s Looking); Crown Publishers, New York 2015, 300 Seiten, ca. 26 €, ISBN 978-0-8041-8660-5