Wo drückt den Deutschen der Schuh?

Buchkritik:

„Wie tickt Deutschland?“ von Stephan Grünewald –

Stephan Grünewald ist mittlerweile ein routinierter Talkshow-Gast und Interviewpartner. Der Geschäftsführer des Marktforschungsinstitut rheingold hatte bereits vor einigen Jahren einen Erfolgstitel geschrieben. Damals lag „Deutschland auf der Couch“, nicht um sich auszuruhen, sondern um psychologisch analysiert zu werden. Sein neues Buch startete kürzlich wieder mit einem großen Medienecho und vielen Interviews des Autors in allen Medien. Diesmal verspricht er die Antwort auf die Frage „Wie tickt Deutschland?“.

Das Interesse ist berechtigt: Grünewald liefert eine scharfsinnige Gesellschaftsdiagnose, einen Schnappschuss der seelischen Nöte der Deutschen. Dabei schöpft er nicht nur aus einer Alltagsbeobachtung oder der Zeitungslektüre, wie viele anderen Welterklärer in den Medien. Vielmehr liefern die Forschungsprojekte des rheingold-Instituts die empirische Basis für Grünewalds Analysen. Sein Institut ist für qualitative Forschung und Interpretationen entsprechend der Schule der „Morphologischen Marktforschung“ bekannt. Und typische morphologische Muster erkennt der Autor, wenn er sich die psychischen Befindlichkeiten der deutschen Männer, Frauen und Kinder anschaut. Sie sind voll mit Spannungen, Widersprüchen, Konflikten – zwischen Wünschen und Anforderungen, Gesellschaft und Individuum, widerstreitenden Motiven.

Manchmal werden Märchen herangezogen, um sie zu illustrieren – ganz im Stil von Wilhelm Salber, dem Papst der morphologischen Psychologie und Inspirationsquelle für eine ganze Heerschar von qualitativ arbeitenden Marktforschern. Sein Schüler Grünewald liefert dabei zahlreiche Einsichten, die uns tatsächlich helfen, den gegenwärtigen Zustand des Landes besser zu verstehen: Warum wir, obwohl in wirtschaftlich prosperierenden Zeiten lebend, unzufrieden und unsicher sind. Was das Problem der mangelnden Wertschätzung gesellschaftlicher Gruppen mit den Reaktionen auf Flüchtlinge zu tun hat. Warum Männer und Frauen heute mit ihren Rollen überfordert sind und warum ihre Kinder im Teenager-Alter statt zu rebellieren lieber „chillen“ (was natürlich ihre Art von Rebellion gegenüber dem Erwartungsdruck der Eltern ist, soviel sei verraten).

Dabei gelingen dem Autor immer wieder prägnante Beschreibungen und sprachliche Pointen (manchmal nah am Kalauer), etwa wenn er den Burn-Out als Tapferkeitsmedaille beschreibt oder vom AppSolutismus des Smartphone-Zeitalters berichtet. Ausführlich widmet sich Grünewald den Medien: Dem Smartphone als digitalen Körperteil, das Allmacht verspricht. Oder dem Serien-Schauen als Rückzug in eine eigene Welt des Tagtraums.

Der Text ist dabei immer nah am Alltag, kommt weitgehend ohne Fachwörter oder Wissenschaftsjargon aus und verzichtet sogar auf alle methodischen oder inhaltlichen Details zu den zitierten Studien. Auch andere Fakten oder Belege für seine Thesen liefert Grünewald selten. Das lädt vielleicht den einen oder anderen Sozialforscher zur Skepsis ein, macht das Buch aber für die Leser ergiebiger. Anders als Wissenschaftler und Marktforscher präsentiert der Autor keine Methoden- oder Theoriediskussionen, sondern Erkenntnisse, die uns helfen, besser zu verstehen, was gerade um uns herum und mit uns passiert.

Stephan Grünewald: Wie tickt Deutschland? Psychologie einer aufgewühlten Gesellschaft; Köln 2019, 308 Seiten, 20,00 €, Kiepenheuer & Witsch, ISBN 978-3-462-052442