Lücken der Werbewirkungsforschung

Für einen Artikel hat der Mediaforscher Dr. Sven Dierks vor einiger Zeit meine Meinung zum Thema Werbewirkungsforschung eingeholt. Die vollständigne Antworten zu seinen Fragen zum Forschungsstand und dessen praktische Anwendung kann man hier nachlesen:

Was waren die bedeutendsten Erkenntnisse der Werbeforschung in den letzten Jahren? Wo gab es beachtenswerte Innovationen?

Meiner Ansicht nach gibt es fünf Bereiche, die in diesem Zusammenhang von Interesse sind:
1. Neuromarketing
2. Modelling / ROI-Analysen
3. Apparative Meßverfahren
4. Analyse von Online-Daten
5. (echte oder simulierte) Single-Source-Panels

Die wirklichen Innovationen sind bei 2. und 3. zu finden, bei 1. bestehen Hoffnungen, dass hier noch Innovationen zu erwarten sind. 4. ist das Feld, an dem die meisten Anstrengungen notwendig wären und die Branche dringend auf neue Erkenntnisse und Methoden wartet, während 5. die hohen Erwartungen der Vergangenheit nicht erfüllen konnte.

Der Teil der Werbeforschung, der (nicht unbedingt zu recht) die meiste Publizität bekommen hat, hängt mit der Erforschung des Gehirns und dem Schlagwort „Neuromarketing“ zusammen. Dabei wurde ein Schwerpunkt auf automatische und implizite Verarbeitungs- und Entscheidungsprozesse gelegt, die in den Jahrzehnten zuvor etwas vernachlässigt wurden. Doch muss man dabei auch kritisch feststellen: So wertvoll die neurowissenschaftliche Grundlagenforschung für das bessere Verständnis von Kaufentscheidungen und Medienrezeption ist, so dünn ist bisher noch der Erkenntnis-Ertrag aus den wenigen konkreten Neuromarketing-Studien.

Schon der Name „Neuromarketing“ ist irreführend – es handelt sich ja (wie Werbeforscher John Phillip Jones es gesagt hat) nicht um ein Marketing-Tool, sondern bestenfalls um einen Forschungsansatz. Und die angewandten Methoden sind nach wie vor viel zu aufwendig, kostenintensiv und störanfällig, als das sie für die praktische Markt- und Werbeforschung einsetzbar sind.

Ein anderer Bereich der Werbeforschung, der nach wie vor an Bedeutung gewinnt, ist die statistische und ökonometrische Analyse von Werbeaufwendungen, GRP und Zielgrößen wie Absatzzahlen, Marktanteile oder Werbeerinnerung. Das wird unter dem Begriff Modelling zusammengefasst, aber auch gerne mit der Suche nach dem „Return on Investment“ im Zusammenhang gesehen. In Zeiten knapper Kassen ist es wichtig, den monetären Einsatz für Werbe- und Marketingmaßnahmen zu optimieren. Dieser Bereich der Werbeerfolgsanalyse ist für die konkrete Marketingplanung deutlich wichtiger und anwendbarer als alles hochwissenschaftliche oder populäre Gerede über Neuromarketing.

Durch verbesserte Technik gab es auch in den letzten Jahren eine Renaissance der apparativen Messverfahren. Viele davon waren in der Vergangenheit an komplizierte und teure Geräte gebunden, können heute aber am Computer-Bildschirm leicht eingesetzt werden. Dazu gehören das sogenannte Mouse-Tracking, Realtime-Responses, Reaktionszeitmessung und tachistoskopische Darbietungen. Hinzu kommen weitere Verfahren, die zwar noch spezielle technische Geräte benötigen, aber trotzdem dank technischer Innovationen einfacher und günstiger anzuwenden sind: Blickregistrierung via Kamera, Elektroenzephalografie (EEG), Messung der Pupillenerweiterung, des Hautleitwiderstands und Pulses, Registrieren von Körperbewegungen. Der Beitrag dieser Methoden zur Erkenntnisgewinn in der Werbewirkungsforschung ist allerdings nicht immer klar, die Interpretation ist schwierig.

Manche Resultate schwanken zwischen Banalität, Zufälligkeit und bedeutsamen Insights, ohne das die Einordnung immer klar ist. Doch helfen die Methoden, die Gestaltung von Werbemitteln zu verbessern, wenn sie z.B. konsequent bei Pretests eingesetzt werden.

Das Internet hat neue Herausforderungen für die Werbewirkungsforschung gebracht, gleich in dreifacher Hinsicht: Es ist Kommunikations- und Informationsmedium, Marktforschungs-Plattform und Vertriebs- und Verkaufskanal. In jeder dieser Funktionen werden elektronische Daten gesammelt, die über Werbeerfolg Auskunft geben können, wenn sie denn richtig gemessen, in Datenbanken verfügbar gemacht und analysiert werden. Hinzukommen neue Indikatoren für Werbewirkung: Conversion-Rates, Suchanfragen bei Google, Verlinkungen, Nennungen in Social Media. Internet-Dienstleister weisen immer gerne darauf hin, was alles messbar und analysierbar ist. Doch in der Praxis erweist sich dies als schwieriger als es die selbstbewussten Verlautbarungen versprechen.

Es mangelt bei manchem Dienstleister noch an den erprobten technischen Methoden und der praktischen Handhabung. Doch selbst wenn Daten in unvorstellbarer Menge und Detaillierungsgrad technisch erhoben werden, so fehlt oft ein Know-how über die geeigneten Analyseverfahren und vor allem an Zeit und Manpower, um tatsächliche wertvolle Erkenntnisse zu gewinnen, die über ein bloßes deskriptives Reporting hinausgehen. Nicht zuletzt müssen noch neue Wirkungs-Modelle entwickelt werden, die eine Interpretation der so gesammelten Daten überhaupt erst möglich machen. In theoretischer Hinsicht hinkt die Werbewirkungsforschung der technischen Entwicklung hinterher.

Ein Forschungsfeld, auf das man vor einigen Jahren noch große Hoffnungen setzte, war die Single-Source-Erhebung von Mediennutzungs- und Käufer-Daten, wie es etwa das Nielsen-Single-Source-Panel in Deutschland oder das Atlas-Projekt in den USA anwandten. Beide Projekte sind mittlerweile eingestellt. Hier kam es zu einer gewissen Ernüchterung, da die hohen Kosten sich nicht in einem kontinuierlichen Interesse und einer entsprechende Ausgabebereitschaft auf Seiten der Werbungtreibenden widerspiegelten. Allerdings bieten die großen Marktforschungs-Konzerne GfK und Nielsen mittlerweile ähnliche Untersuchungsansätze an, die anstatt auf Single-Source-Erhebungen auf die Verbindung unterschiedlicher Panels mittels Datenfusion setzen.

Ob dies jedoch künftig ein wichtigerer Teil der Werbewirkungsforschung werden wird, ist fraglich – Fusionen sind immer noch aufwendig und mit vielen Unsicherheiten behaftet, weshalb diese Art von Forschung nach wie vor eine teure Angelegenheit ist.

Wie würden Sie heute den Stand der Werbewirkungsforschung charakterisieren?

Die Einschätzung ist sehr ambivalent. Zum einen gibt es heute eine Vielzahl von Methoden, Techniken, Modellen und Anwendungsmöglichkeiten, so dass man meinen könnte, die Werbewirkungsforschung bewegt sich auf dem höchsten Niveau, dass es je gab. Zum anderen sind viele dieser Strömungen aber unterschiedlich entwickelt, wenig integriert und nicht immer praktisch umsetzbar. Das führt zu einer gewissen Unsicherheit: Theoretisch bewegt man sich auf den Höhen der Neurowissenschaft, praktisch meist auf einer eher unreflektierten Input-Output-Analyse.

Dabei gibt es verschiedene Gräben zu überwinden: Den Graben zwischen wissenschaftlicher Forschung und praktischer Anwendung; den Graben zwischen quantitativen Analysen und qualitativen Erkenntnissen; den Graben zwischen dem Verstehen individueller Prozesse im Gehirn und aggregierten Verhaltens im Markt. Marketing-Entscheider werden mit einer Vielzahl von Einzelbefunden bombardiert, es mangelt aber an der Fähigkeiten, diese für konkrete Marketing-Entscheidungen einzusetzen.

Welche Erwartungen setzen Sie in die Werbewirkungsforschung? Welche wurden bisher eingelöst, welche nicht?

Im Grunde gibt es verschiedene Fragen, die an die Werbewirkungsforschung gerichtet werden:

  1. Wie muss ich mein Budget investieren, damit ich einen maximalen Return on Investment bekomme?
  2. Welche Medien, Werbeträger und Kommunikationskanäle tragen in welchem Umfang zu meinen monetär messbaren Erfolg bei?
  3. Wie funktionieren Medien und Kanäle, d.h. wie kann ich deren Einsatz so optimieren, dass ich maximale Wirkung erziele?
  4. Wie hängen psychische Indikatoren für Werbewirkung (Markenbekanntheit, Ad Awareness, Image, Kaufbereitschaft, Gefallen der Werbung etc.) mit ökonomischen Indikatoren für Werbeerfolg (Absätze, Umsätze, Marktanteile, Bestellungen etc.) zusammen?
  5. Wie kann ich den langfristigen Beitrag von Werbeinvestitionen auf mein Geschäft messen und bewerten?
  6. Wie kann ich die Gestaltung meiner Werbemittel so optimieren, dass ich eine maximale Wirkung erziele?
  7. Wie kann ich kontinuierlich meine Werbeerfolg messen, beobachten und optimieren?

Die kommerzielle und wissenschaftliche Forschung bietet dazu Modelle, Befunde und Tools. Bei den Fragen 6. und 7. sind die Tools einigermaßen ausreichend (Trackings, Pretests), bei den anderen Fragen gibt es noch keinen Königsweg, wie man zu Antworten kommt. Besonders Fragen 2 und 3 sind bis auf weiteres schwierig zu beantworten.

Welche Erkenntnisse fehlen derzeit trotz intensiver Werbeforschung? Wo sind die Lücken?

Das wurde bereits in den Fragen oben beantwortet. Aber nochmal zur Wiederholung: Spannend sind die Themen „Analyse von Online-Daten aus Sicht der Werbewirkung“ und „Effektiver und effizienter Einsatz aller Kommunikationskanäle“.

Noch ein interessantes Feld: Wie sind die Wechselwirkungen zwischen Word-of-Mouth-Kommunikation und den herkömmlichen Kommunikationskanälen? Wie beeinflusst z.B. Werbung das Ausmaß, wie meine Kunden mein Produkt weiterempfehlen? Was kann ich machen, um Mundpropaganda zu stimulieren und für meine Ziele einzusetzen?

Welches sind die Lücken bei den gängigen Trackingsystemen?

Schwierig ist nach wie vor die Messung von Kontaktchancen mit Mediagattungen, geschweige von anderen Kommunikationskanälen. Auch für die medienspezifische Werbeerinnerung (wurde eine Werbung etwa im Fernsehen oder in Print gesehen?) ist bis heute nicht befriedigend gelöst worden. Schwierig bleibt auch nach wie vor das Abwägen zwischen möglichst detailgenauem Erheben von spezifischen Kampagneneigenschaften und eher allgemeinen Indikatoren für Langzeitvergleiche. Auch ein Abwägen von Kosten und Nutzen bleibt eine Herausforderung – etwas bei den Fragen der Stichprobengröße, Anzahl der Messzeitpunkte, Zielgruppenaussteuerung, Erhebungsmethode (Online, CATI, Face-to-Face) und Umfang des Fragebogens.

Was sind die größten Herausforderungen für die Werbeforschung in den nächsten Jahren? Wo steuert die Werbewirkungsforschung hin?

Einige Themen wurden bereits im Zusammenhang mit der ersten Frage beantwortet. Aber es gibt noch Herausforderungen, die auch andere Bereiche der Media- und Marktforschung betreffen:

  • Wie gehen Bevölkerung, Unternehmen und Gesetzgeber mit den wachsenden Bedenken in Sachen Datenschutz und informationelle Selbstbestimmung um?
  • Wie lassen sich der rasanten technischen Entwicklungen verlässliche Telefon- und Online-Stichproben ziehen?
  • Wie können neue technische Erhebungsmethoden (z.B. Scanner, Radiowatches, RFID-Chips, GPS-Geräte, PDAs) eingesetzt werden, ohne gleichzeitig dabei die Qualität der Stichproben zu gefährden?
  • Wie geht die Forschung damit um, dass die primären Datenquellen nicht mehr nachvollziehbare repräsentative Befragungen sind, sondern technisch gemessene Zahlen aus den unterschiedlichsten Zusammenhängen, die über statistische Verfahren und Fusionen zu komplexen Datensätzen zusammengeführt werden (Beispiel: 3-Säulen-Modell der AGOF)?

Wie bewerten Sie die Versuche der Medien, Ihr Wirkungspotenzial zu belegen? (Publikumszeitschriften, TV, Radio, Tageszeitungen, Online)

Es ist die Verpflichtung der Werbeträger, den Kunden ihre Leistung nachzuweisen. In der Vergangenheit bestand diese Leistung nur in der Herstellung von Kontakten, deshalb lag der Schwerpunkt der Mediaforschung bei Reichweiten und Strukturen. Heute kommt das Thema Werbewirkung immer mehr in den Vordergrund, weshalb hier alle Aktivitäten zu begrüßen sind. Besonders Werbeträger übergreifende Studienkonzepte, wie der Ad Impact Monitor der Zeitschriften oder der ZMG-Zeitungsmonitor, sind dabei positiv zu bewerten.

Dazu gehört auch ein Portal wie „Wirkstoff.tv“ der TV-Vermarkter, in denen Studien und Daten für die Anwender leicht verfügbar sind. Bedauerlich ist es, dass umfassende Tracking-Studien der TV-Sender, wie der IP-Werbewirkungskompass oder die „Qualitäten der Fernsehwerbung“ von ARD und ZDF, zum Teil nicht mehr weiterverfolgt worden sind. Ein Defizit besteht noch in sinnvollen Online-Wirkungsstudien und Intermedia-Studien, die den Namen tatsächlich verdienen, weil sie eine gattungsunabhängige Perspektive einnehmen.