Neuromarketing behindert die Zielgruppen-Analyse

Neuromarketing ist das Schlagwort der Stunde. Haben neurowissenschaftliche Erkenntnisse auch einen Einfluss auf die Mediaplanung und die Steuerung von Werbekampagnen? Zu diesem Thema recherchierte die Fachzeitschrift w&v bei Mediaagenturen. Meine Einschätzung zu dem Thema können Sie hier lesen:

Trend Neuromarketing – gibt es  einen Bedeutungszuwachs von Neuromarketing auch in der Mediaplanung?

Nein, es gibt nur eine Konjunktur der Begriffe „Neuro“ und „gehirngerecht“ im Zusammenhang mit allem und jedem. Der inflationäre Gebrauch des Labels „Neuro“ täuscht über die recht dünne Forschungslage hinweg. Tatsächlich gibt es generell erst wenig wirklich empirisch abgesicherte Erkenntnisse aus dem Forschungsfeld Neuromarketing – und die werden oft übergeneralisiert oder reißerisch dargestellt. Eine Relevanz für die konkrete Mediaplanung sehe ich nicht.

Zielgruppenforschung statt Reichweitenplanung: Steht der Konsument stärker im Fokus der Mediaagenturen?

Ja, der Konsument steht immer im Mittelpunkt aller unserer Maßnahmen und Überlegungen. Menschen richten ihren Alltag immer weniger nach Medien aus, deshalb müssen die Medien – und auch die Werbung – sich nach den Menschen richten. Nur wenn wir den Konsumenten durch kluge Forschung besser verstehen, können wir ihm relevante Kommunikationsangebote machen. Das Neuromarketing behindert aber eher eine differenzierte Zielgruppenbetrachtung – es wird nicht auf individuelle Bedürfnisse und Motivationen eingegangen, sondern Verhalten wird auf wenige biologische Grundfunktionen reduziert – wie vor über 100 Jahren, als man auch von „Trieben“ und „Instinkten“ sprach, um das menschliche Verhalten zu erklären. Eine paradoxe Situation: Die Neuro-Gurus berufen sich auf Forschungstechniken aus dem 21. Jahrhundert, doch ihre Erklärungsmodelle sind im frühen 19. Jahrhundert verhaftet.

Welche Rolle spielen neurowissenschaftliche Methoden bei der Untersuchung von Werbewirkung?

Eine geringe, da es immer noch kein wirklich zuverlässiges und valides Verfahren gibt, mit denen man Gehirnvorgänge in Alltagssituationen messen und beobachten kann. Deshalb sind neurowissenschaftliche Methoden zwar wertvoll für die Grundlagenforschung, um besser zu verstehen, wie wir entscheiden oder was in unserem Gedächtnis abgespeichert wird. In der angewandten Forschung können sie aber auf absehbare Zeit nicht eingesetzt werden. Alle marktforscherischen Verfahren, die im Zusammenhang mit Neuromarketing gerne genannt werden (z.B. Realtime Response-Messungen oder implizite Verfahren wie Reaktionszeitmessungen und Blickregistrierungen), haben mit Neurowissenschaft nichts zu tun. Im besten Fall sind es erprobte Verfahren der klassischen psychologischen Konsumentenforschung. Im schlechtesten Fall werden apparative Meßmethoden eingesetzt, deren Resultate schwer bis kaum zu interpretieren sind.

Oder dient der neurowissenschaftliche Ansatz eher der Beobachtung des Mediennutzungsverhaltens?

Einen Einsatz für die Erforschung der Mediennutzung sehe ich überhaupt nicht, solange wir unser Leben nicht überwiegend in der Tomografen-Röhre verbringen werden.

Wie kommt Neuromarketing in der täglichen Agenturarbeit zum tragen? Was heißt das für den Kunden?

Unsere Mediaplanung wird besser, je mehr wir über den Konsumenten wissen. Prozesse der Aufmerksamkeit, des Entscheidens, des Lernens und des Abrufs von Erinnerungen sind wichtig, deshalb sollten Media- und Marketing-Experten so viel wie möglich darüber wissen. Auf diesen Weg landen Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung tatsächlich in der Expertise der Planer, Forscher und Strategen in Agenturen. Das hat aber nichts mit einer Art „Neuro-Mediaplanung“ zu tun – die gibt es schlichtweg nicht. Allerdings würde es nicht schaden, wenn diejenigen, die im Marketing immer vom Gehirn reden, es auch ab und zu mal einsetzen würden.

Fragen: Katrin Otto, Werben & Verkaufen

Antworten: Dirk Engel, Universal McCann, Head of Research