Einblick in Deutschlands Kinderwelten

Buchkritik:

Kinder in Deutschland 2018″ –

Es war schon zu allen Zeiten so: Jeder hat eine Meinung über „die Jugend von heute“. In der Regel hält man sie für anders als die Jugend früherer Zeiten. Nicht selten glaubt man, früher war die Jugend sogar besser: Engagierter, konzentrierter, sportlicher, weniger übergewichtig, höflicher, konzentrierter. Die Jugend heutzutage würde nur noch auf ihre Smartphones schauen und besäße nur die Aufmerksamkeitsspanne eines Goldfisches. Solche Pauschalurteile speisen sich meist durch Medienberichte, zufällige Beobachtungen oder nachgeplapperte Vorurteile. Umso wichtiger ist es, sich mit echten empirischen Daten zu beschäftigen. Eine der wichtigsten Quellen dafür ist Studie „Kinder in Deutschland“, die von dem Kinderhilfswerk World Vision herausgegeben wird. Die Untersuchung ist quasi die kleine Schwester der langjährigen Shell-Jugendstudie und erschien 2018 bereits zum vierten Mal.

Befragt wurden 2.500 Kinder im Alter von sechs bis elf Jahren (zusätzlich wurden zu Haushaltsinformationen die Eltern befragt). Das Ziel ist es, die Lebenswelt der Kinder aus ihrer Perspektive widerzuspiegeln: Wie zufrieden sind die Kinder mit ihrer Freizeit und mit der Schule, mit Freunden und Familie? Vor was haben sie Angst, in welchen Lebensbereichen fühlen sie eine Wertschätzung? Wie nutzen sie Medien und Freizeitangebote von Vereinen? Wie so häufig liefern solche Befragungsdaten ein differenzierteres Bild, als es die verbreiteten Pauschalurteile und Meinungen erwarten lassen. Die wertvollen Ergebnisse sind in einem informativen und gut lesbaren Buch veröffentlicht, ergänzt um Porträts von typischen Jungen und Mädchen, die auf qualitativen Interviews beruhen.

Die Kinder in Deutschland leben in einer digitalen Welt: Zwar haben nur jeweils ein Drittel der befragten Kinder ein Smartphone oder sind regelmäßig im Internet, doch das liegt daran, dass hier auch kleine Kinder in der Stichprobe enthalten sind. Schaut man sich die 10- bis 11jährigen an, so haben hier fast dreiviertel der befragten Jungen und Mädchen ein Smartphone und nutzen regelmäßig das Internet – für Kommunikation, Unterhaltung und zum Lernen. Sie kommunizieren mit ihren Freunden via Facebook und andere Plattformen. Gleichzeitig scheinen die Treffen mit Freunden im Vergleich zu den früheren Wellen an Bedeutung zu verlieren – doch können die Forscher hier keine Kausalität feststellen. Kinder mit vielen Freunden treffen diese sowohl im Internet wie „im wirklichen Leben“. Wer wenig Freunde hat, ist online ebenfalls eher allein.

Andere Internet-Mythen werden durch die Zahlen ebenfalls in Frage gestellt: Kinder berichten von Mobbing und Ausgrenzung, doch passiert dies wie eh und je im Klassenzimmer und auf dem Schulhof, nur sehr wenige erzählen von Mobbing im Internet. Grundsätzlich sind viele Ergebnisse stabil, wenn man sie mit den früheren Wellen vergleicht. Selbst das Bücherlesen geht nur leicht zurück, ist aber nach wie vor eher ein Mädchen-Hobby, während die Jungs sich häufiger Computer- und Online-Spielen widmen. Eine „verplante“ Kindheit, z.B. durch Aktivitäten in Sportvereinen oder anderen Institutionen zeigt sich in den Daten übrigens kaum.

Die Weltsicht der Kinder wird natürlich von den Medien geprägt: Angst vor Terror, Krieg und Umweltzerstörung sind verbreiteter als manche konkreten Ängste, etwa die Arbeitslosigkeit der Eltern oder schlechte Schulnoten. Die Forscher stellten in der 2018er Welle neue Fragen zu Flüchtlingen. Sie waren überrascht, dass viele Kinder von konkreten Erfahrungen mit Flüchtlingskindern berichteten, wobei diese überwiegend positiv und weniger problemgeladen sind. Dazu passt, dass sich fast doppelt so viele Kinder vor Ausländerfeindlichkeit fürchten als vor Ausländern. Ein Befund der Studie sollte uns allerdings Sorgen bereiten: Wie bereits in den Vorgänger-Wellen zeigt sich in den aktuellen Daten, wie stark die Zufriedenheit und die Möglichkeiten von Kindern durch die soziale Schicht bestimmt werden, in die sie hineingeboren werden.

Kinder aus der unteren Mittelschicht oder aus der Unterschicht erleben in vielen Bereichen Benachteiligungen: Sie sind unzufriedener mit der Zuwendung der Eltern, mit der Wertschätzung in Schule und Umwelt, sie haben weniger Freunde und ein weniger vielseitiges Freizeitverhalten, sie haben geringere Erwartungen an ihre eigene Bildungskarriere und können in Schule und Familie weniger mitbestimmen. Nur bei der Internetnutzung gibt es keine Klassenunterschiede mehr: Der Internetzugang und Handybesitz sind in allen Schichten gewährleistet. Doch sind es die Jungen und Mädchen der oberen Statuslagen, die daraus mehr machen. Noch ist Deutschland weit davon entfernt, allen Kindern die gleichen Startchancen zu geben.

Sabine Andresen / Sascha Neumann / Kantar Public: Kinder in Deutschland 2018 – 4. World Vision Kinderstudie; Weinheim / Basel 2018, 408 Seiten, 29,95 €, Beltz, ISBN 978-3-407-