Kreativität in der Krise?

Buchkritik:

„Lemon“ von Orlando Wood –

Der britische Agentur-Verband IPA hat schon viele interessante Publikationen herausgegeben, die wertvolle Forschungsergebnisse rund um Marketing, Mediaplanung und Werbewirkung liefern. Die neuste Broschüre ist da keine Ausnahme. Das Cover und der Titel „Lemon“ ist eine Reminiszenz an die legendären VW-Anzeigen des Werbe-Genies Bill Bernbach – doch statt eines Käfers sieht man ein menschliches Gehirn. Hier geht es um Kreativität – um genauer zu sein: Um den Verlust von Kreativität.

Die These des Buches: Die britische Werbung der letzten zehn Jahre hat an Wirksamkeit verloren – das zeigen die Befunde aus der IPA-Datenbank zur Effektivität von Werbung. Gleichzeitig hat sich der kreative Stil verändert. Die Kampagnen, so der Autor Orlando Wood vom Marktforschungs-Institut System1, seien heute abstrakter, flacher, Wort lastiger, weniger lebhaft, hätten ihre Menschlichkeit verloren. Die Ursachen liegen in einer Konzentration auf kurzfristige Ziele und den Restriktionen der digitalen Welt. Dies alles fördere ein Denken, dass mit der linken Gehirnhälfte assoziiert wird: zielgerichtet, analytisch, auf einzelne, isolierte Aspekte fokussiert.

Der Stil der rechten Gehirnhälfte sei hingegen in der zeitgenössischen Werbung immer weniger gefragt: Emotionalisierend, empathisch, eher das Ganze als die Einzelteile sehend. Der Siegeszug des „Left Brain“ hat zu einer Krise der Kreativität geführt. Soweit die These von Wood, die er sehr ausführlich herleitet. Dabei benutzt er Forschungsergebnisse seines Marktforschungs-Instituts System1, aber auch Beispiele aus Kunst und Kultur vergangener Jahrhunderte. Bilder von Meisterwerken der Kunstgeschichte wechseln sich mit Kurven-Diagrammen und Balken-Grafiken ab. Die Perspektive ist sehr umfassend: Auf die schwierigen Bedingungen im heutigen Agenturgeschäft (die Konzentration in Richtung „Left Brain“ beginne bereits bei den herkömmlichen Agentur-Briefings) geht Wood ebenso ein wie auf die emotionalen Reaktionen der Konsumenten, alles mit Zahlen unterfüttert.

Woods Argumentation ist hochrelevant, brillant hergeleitet, aber sehr ambitioniert. Den Argumenten zu folgen erfordert schon ein gewisses Maß an Konzentration, eine leichte Lektüre ist die schön aufgemachte Broschüre nicht – trotz der vielen Zusammenfassungen und den reichhaltigen Abbildungen nicht. Mancher mag sich an dem Festhalten der Metapher der rechten und linken Hemisphäre stören, die in der modernen Neurowissenschaft eigentlich nicht mehr verwendet wird. Doch das sind Nebensächlichkeiten.

Die These der Kreativitätskrise ist interessant genug, dass man sich auf sie einlassen sollte. Wood fordert eine Rückkehr zu den „Right Brain“-Tugenden. Allen voran empfiehlt er den Einsatz von sogenannten „fluent devices“ – das sind Symbole, Logos und Key Visuals, die beim Rezipienten emotionale Reaktionen auslösen sollen. Besonders angetan haben ihm dabei die fiktiven Marken-Charaktere und Maskottchen wie die m&m-Figuren. Sie sind Beispiele für emotionalisierende und somit wirksame „fluent devices“. Markenfiguren gelten bei vielen Werbern für altbacken und albern, doch Orlando Wood sieht in ihnen wertvolle „Brand Assets“. Sie sorgen für Spaß und Unterhaltung, was wiederum langfristige Markenbindungen fördere. Egal, ob man dem zustimmt oder nicht, mit der Publikation „Lemon. How the advertising brain turned sour“ ist der IPA ein geistreicher Denkanstoß gelungen.

Orlando Wood: Lemon. How the advertising brain turned sour; London 2019, IPA; 120 Seiten, ca. 56 €, ISBN 978-0-85294-147-8