Das Märchen vom Märchen von der digitalen Werbung

Die Mediabranche diskutiert über „das Märchen von der digitalen Werbung“. Lesen Sie dazu meine Kolumne bei Springer for Professionals.

Die Mediabranche diskutiert über „das Märchen von der digitalen Werbung“. Stimmen die Vorwürfe, die Mediaagenturen würden ein unwirksames Werbemedium – nämlich das Internet – aus reinem Eigeninteresse propagieren? Hat nicht jedes Märchen vielmehr einen wahren Kern? Und ist es sinnvoll, ein neues Märchen durch ein altes zu ersetzen?

In einem FAZ-Artikel schrieb Jürgen Scharrer leidenschaftlich und eloquent darüber, dass heute Werbegelder mehr und mehr ins Internet wandern. Er stellt den Sinn davon in Frage: Werbung in digitalen Medien wirke ganz anders als in andere Medien und eher schlechter. Mediaagenturen würden eine Ideologie der Digitalisierung vertreten, weil sie davon profitieren und dabei nehmen sie in Kauf, ihre Kunden falsch zu beraten. Der Artikel zog weite Kreise – interessanterweise gerade im Internet – er wird bis heute weitergeleitet, empfohlen, kommentiert und diskutiert. Er traf zweifelsohne einen Nerv und formuliert viele Vorbehalte gegenüber Online-Werbung, die viele nur denken, aber nicht in der Öffentlichkeit aussprechen, da man nicht als „ewiggestrig“ gelten möchte. Grund genug, einmal zu prüfen, was dran ist am „Märchen von der digitalen Werbung“.

Mediaagenturen: Treiber oder Getriebene?

Erst mal ist die Frage erlaubt, ob es wirklich die Mediaagenturen sind, die das Märchen über die digitale Werbung in die Welt gesetzt haben. Auch wenn sie heute lauthals das Loblied der digitalen Medien singen – eigentlich waren sie eher Spätzünder. Sie brauchten einige Zeit, bis sie auf den digitalen Zug aufsprangen, der aber schon seit einigen Jahren in voller Fahrt war. Ihre Investitionen in technische Infrastruktur sind dabei nicht der Grund, sondern eher die Folge der wachsenden Online-Spendings. Auch kann die Digitalverliebtheit schwerlich daran liegen, dass Online-Werbung so günstig sei, denn wo wenig Geld ausgegeben wird, verdienen alle nicht viel. Dass durch Trading-Modelle überproportional Geld bei den Agenturen hängen bleibe, wünschen sich vielleicht einige, aber Tatsache ist: Trading ist nur ein überschaubarer Teil des Mediageschäfts – und nicht nur auf die digitalen Medien beschränkt. Dass die Mediaagenturen digitale Werbung propagieren, muss also in erster Linie andere Gründe haben. Der wichtigste: Vielleicht liegt es einfach an der veränderten Mediennutzung der Konsumenten? Denn Mediaplanung muss Zielgruppen da abholen, wo sie sich befinden – bei Google, Facebook und vielen anderen Online-Angeboten. Der Nachteil von Zeitungen sind dann nicht die fehlenden Echtzeitdaten, sondern die fehlenden jungen Leser.

Grotesk wie das Handy

Scharrer hält die Vorstellung, Menschen würden „massenhaft mit ihren Smartphones QR-Codes von Plakaten abfotografieren“, für „reichlich grotesk“. Nun ja, mehr und mehr Menschen nutzen Smartphones für mehr und mehr Zwecke. In Japan waren schon vor sechs Jahren alle Anzeigen mit QR-Codes versehen – und wurden eifrig gescannt. Nun erscheinen uns auch andere japanische Alltagsrituale manchmal „reichlich grotesk“ – aber nur, weil wir unser jetzigen Verhalten für das Maß aller Dinge nehmen. Vor 25 Jahren behaupteten Wissenschaftler, in Deutschland würde sich das Mobiltelefon niemals durchsetzen. Es würde, so die Soziologen, zu den deutschen Wertvorstellungen von Privatsphäre nicht passen. Die Deutschen würden niemals in der Öffentlichkeit private Gespräche führen, lautete die Prognose. Heute gibt es in Deutschland mehr Handys als Menschen und keine Telefonzellen mit dicken Glaswänden mehr. Und wer im ICE-Großraumabteil sitzt, bemerkt nichts von der Angst der Telefonierenden, ihre Privatsphäre öffentlich zu machen. Auch wenn Medienentwicklung immer aus der Dialektik von Stabilität und Wandel entsteht, sollte man doch niemals ausschließlich der Stabilität vertrauen und den Wandel ignorieren.

Wirkung ohne Beweise

Nun spricht der Artikel von Jürgen Scharrer durchaus wichtige Punkte an: Werbewirkung funktioniert in unterschiedlichen Medien auf ganz andere Weise. Doch das Thema ist komplex und es gibt keine einfachen Wahrheiten. Sicherlich wirkt Werbung im Internet anders als in Print, doch zu sagen, Lean-Back-Medien seien grundsätzlich geeigneter für Werbung, ist eine grobe Pauschalisierung. Bestimmte Kanäle sind für bestimmte Kommunikationsziele besser oder schlechter. Eine differenzierte Planung ist hier notwendig – und wird auch von den meisten Mediaagenturen geliefert. Natürlich müssen wir mehr über die Werbewirkung von digitalen Medien lernen und nicht alle Wirkungsmechanismen, die von den Digital-Vermarktern behauptet werden, decken sich mit den Forschungsergebnissen. Das gilt aber auch für die Behauptungen im FAZ-Artikel: Das Umfeld hat meist nur einen schwachen Effekt auf die Werbewirkung. Und es ist auch fraglich, ob eine Anzeige tatsächlich besser wirkt, nur weil der Leser für die Zeitung Geld bezahlt hat. Übrigens: Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellen sollte, lautet: Wieso kaufen immer weniger Leser eine Zeitung?

Funktioniert digitale Werbung?

Eigentlich gibt es das Internet als Werbemedium nicht: Es liefert nur die Infrastruktur für ganz unterschiedliche Formen von Online-Marketing-Maßnahmen. Affiliate, E-Commerce, E-Mail-Marketing, Social Media, Suchmaschinen-Marketing, Display-Werbung, Bewegtbild, crossmediale und mobile Kampagnen – jede dieser Sparten funktioniert für einige Kommunikationsziele und für andere nicht. Dass Werbung auf Facebook nur selten „geliked“ und weitergeleitet wird, stimmt sicherlich. Aber es betrifft nur einen kleinen Aspekt des Social-Media-Marketings und tangiert die meisten anderen Bereiche des Online-Marketings nicht. Jedes Unternehmen nutzt für seine Zwecke die geeigneten Kanäle – dabei sammelt die FAZ Abonnenten im Internet ein, genauso wie Ebay und Amazon Kunden mit Fernsehwerbung ansprechen. Es ist auch richtig, dass viele der digitalen Marketing-Maßnahmen wenig glanzvoll sind. „Soll so die Zukunft des Marketings aussehen?“ fragt Jürgen Scharrer entsetzt und mit ihm viele Kreative der alten Schule, die gerne mehr Doppelseiten und 30-Sekunden-Spots in Kinoqualität entwickeln würden. Doch Werbung muss nicht schön sein, um zu funktionieren – dafür gibt es zahllose Beispiele, von den Textlinks bei Google bis zu den Prospekten mit den Schweinebauchanzeigen (derzeit noch eine der letzten lukrativen Erlösquellen für Zeitungsverlage).

Unbehagen im Umbruch

Die Brüder Grimm dokumentierten einen grundlegende Medienwandel: Von der orale Kultur der mündlichen Überlieferung hin zur schriftlichen Kultur der Bücher. Auch wir leben in einer Umbruchphase: Alte Rezepte funktionieren noch – aber nicht immer und auch nicht immer so gut wie früher. Die neuen Instrumente haben ihre Kinderkrankheiten – denn es ist durchaus richtig, dass Tools wie Targeting und Real-Time-Bidding noch nicht ausgereift sind. Das macht das Marketing zurzeit unsicher, aber auch spannend. Man kann über die Bewertung verschiedener Maßnahmen uneins sein und über die richtigen Strategien für die Zukunft streiten. Deshalb ist es wichtig, die neuen Ideologien und Märchen auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Aber man sollte sie nicht gegen alte, aber ebenso hinterfragbare Märchen ersetzen. Denn Märchen, das haben die Kulturforscher in der Nachfolge der Brüder Grimm herausgefunden, werden nicht wegen ihres Wahrheitsgehaltes weitererzählt, sondern weil sie unsere unbewussten Werten entsprechen und unsere Vorurteilen bedienen. Im Marketing sollten wir vorurteilsfrei unsere Arbeit machen.

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