Deutsche Dinos suchen Atlantis

Deutsche Manager pilgern ins kalifornische Silicon Valley, getrieben von der Hoffnung, dort das gelobte Land zu finden. Die Faszination für die dort ansässigen Unternehmen paart Angst und Bewunderung. Doch ist das Gegenmodell zum deutschen Unternehmertum eine realistische Option – oder einfach nur ein verklärter Mythos? Dazu habe ich bei Springer Professional eine Kolumne veröffentlicht, die Sie hier lesen können:

Es gibt Legenden von mythische Orte: Etwa der Garten Eden, Shangri-La oder Atlantis. Dort habe es goldene Zeitalter gegeben, höher entwickelte Zivilisationen, verloren geglaubtes Wissen und ein Auflösen von Gegensätzen. Diese Orte, in alten Quellen erwähnt, scheinen zu schön, um wahr zu sein. Deshalb glauben viele, dass sie nie existiert haben, sondern nur die Wünsche der Menschen widerspiegeln. Wenn in einigen Jahrhunderten Historiker die Schriften unserer Zeit lesen, werden sie auch Kunde von einem solchen Sehnsuchtsort finden: Das mysteriöse Silicon Valley – wo immer die Sonne scheint, die Menschen lässig, wissbegierig und geschäftstüchtig sind, aus kleinen Garagen ökonomische Weltreiche entstanden und neue Geschäftsmodelle erblühten, die die Welt veränderten. Wahrscheinlich werden künftige Gelehrte dieses Tal auch für einen Mythos halten, zu perfekt um real zu sein.

Zu schön um wahr zu sein?

Wir wissen, dass es das Silicon Valley wirklich gibt – jene Gegend in Kalifornien, in dem einige der wichtigsten Technologie- und Internet-Firmen angesiedelt sind. Tatsächlich scheinen die Unternehmen dort gleichzeitig die Avantgarde wie auch die mächtigsten Riesen der modernen Wirtschaft zu stellen – Google, Amazon, Apple, Intel, Cisco, Hewlett-Packard, Twitter, Tesla und so weiter. Der ökonomische Erfolg alleine erklärt nicht die Faszination, die das Tal weckt. Es ist die einzigartige Verknüpfung von Gegenkultur und Geschäftssinn, von Hippietum und High-Tech, von Militärindustrie und Individualismus, von Wissenschaft und Wagnis-Kapitalismus, von charismatischen Firmenlenkern und Nerds. Im Silicon Valley werden Widersprüche vereint – man kann gleichzeitig die Welt verbessern, sich selbstverwirklichen und eine Menge Kohle verdienen.

Deutsche Dinos schauen ins Valley

Viele Deutsche schauen sehnsuchtsvoll auf diese Oase der Seligkeit, mit einer Mischung aus Schrecken und Bewunderung. Es schreckt sie die Aggressivität, mit denen die Silicon-Valley-Unternehmen die globalen Märkte aufmischen (das Schlagwort lautet Disruption). Sie bewundern den Wagemut der Unternehmer, die Offenheit des Wissensaustausches, die Visionen der Macher, die Leichtigkeit, wie man an Investorengelder zu kommen scheint.

Und natürlich auch den Lifestyle der Lässigkeit – kein Medienbericht vergisst die Vergünstigungen für die Angestellten bei Google & Co. zu erwähnen: Freies Essen, Sporteinrichtungen, Fahrräder zum schnellen Durchqueren des jeweiligen Betriebsgeländes (das hier natürlich Campus heißt). Wie altmodisch und fahrlässig rückständig wirken da die hiesigen Legenden: Die Industrie-Dynastien und tüchtigen Tüftler, die mit deutschen Ingenieurstugenden Weltkonzerne erschufen, die heute im Vergleich zu den Dotcom-Konkurrenten wie Dinosaurier wirken. Disziplin statt Lässigkeit, Konformität statt Freidenkertum, Sparsamkeit statt Start-up-Investitionsrunden, Präzision statt Lean Production, Krawatten statt T-Shirts, Geheimhaltung statt Ideenaustausch. Deutsche Unternehmertugenden, jahrzehntelang von aller Welt bewundert, verblassen im Vergleich zum Silicon-Valley-Chic.

Mehr Nüchternheit statt Verklärung

Tragisch, dass es die Deutschen trotz aller Silicon-Valley-Besessenheit kaum schaffen, den kalifornischen Geist nach Deutschland zu holen. Da nützt es nur wenig, dass es mittlerweile einen Start-up-Tourismus gibt: Brave Manager werden in die coolen Unternehmen des Valleys eingeflogen, um den Spirit aufzusaugen. Der Axel-Springer-Konzern ging voran, seine Topleute gehören heute zu den überzeugtesten Valley-Evangelisten. Zweifellos kann man eine Menge von den Valley-Firmen lernen – aber nicht nur von den Siegern, sondern viel mehr von den vielen, die untergegangen sind oder nie groß werden. Doch sollte die Energie nicht auf das Besichtigen des dortigen Ökosystems verwendet werden, sondern auf die Modernisierung der deutschen Unternehmenskultur. Was hemmt Innovationen hierzulande wirklich und was kann sie fördern? Ein nüchterner Blick und die alte Tüchtigkeit helfen sicherlich mehr, als der verklärte Blick auf mythische Orte.

Veröffentlicht am 24. August 2016 bei Springerprofessional.de