Wir waren schon immer digital

Buchkritik:

„Muster“ von Armin Nassehi –

Derzeit gibt es einige Bücher, die sich mit der Digitalisierung in den unterschiedlichsten Zusammenhängen beschäftigen. Einige davon diagnostizieren eine „Digitale Demenz“, andere sehen Gefahren oder Chancen für die Demokratie, nicht wenige geben Tipps, wie man sich digital „entgiftet“. Vieles davon sind oberflächliche Phänomene, Folgeerscheinungen des digitalen Lebens. Gewichtiger ist die Frage: Warum werden wir gerade so stark durch Digitales – u.a. das Internet, Smartphones, Big Data, Facebook & Google, K.I. und Programmatic Advertising – beeinflusst.

Ein Buch, das tiefer bohrt, bis herunter zu den Grundfesten unserer Gesellschaft, hat der Soziologie Armin Nassehi veröffentlicht. Es liefert uns einige wichtige Erkenntnisse. Um es vorwegzunehmen: Eine einfache Lektüre ist die Abhandlung nicht. Nassehi hat durchaus ein Talent für das anschauliche Formulieren von komplexen Gedanken, das stellt er in seinen leichtfüßigen Essay-Bänden oder als Herausgeber des intellektuellen Periodikums „Kursbuch“ unter Beweis. In seinem neuen Buch „Muster – Theorie der digitalen Gesellschaft“ argumentiert er jedoch sehr umfassend philosophisch.

Trotz einer angenehm klaren Sprache sind die Gedankengänge für jemand, ohne philosophische oder systemtheoretische Kenntnisse, nicht immer leicht nachzuvollziehen. Doch der Inhalt ist allemal spannend: Nassehi erläutert schlüssig, dass die digitalen Techniken deshalb so erfolgreich sind, weil sie bei einem Kernproblem unserer Gesellschaft helfen. Diese ist nämlich seit zweihundert Jahren zunehmend komplexer geworden, so dass ihre Funktionsweise für uns nicht offensichtlich erkennbar ist. Doch die Komplexität erzeugt Muster, die man aber nur findet, wenn man eine besondere Beobachter-Perspektive einnimmt und Instrumente hat, verstecke Zusammenhänge aufzudecken.

Sozialstatistik, Soziologie und Marktforschung haben sich im 19. Jahrhundert entwickelt, um dies zu leisten. Unsere digitalen Tools – von Suchmaschinen über Google Maps bis zum Matching-Algorithmus von Parship – sind die Weiterentwicklungen dieser Anfänge. Sie produzieren Daten, die nicht nur den Konsumenten im Alltag helfen, sondern die gleichzeitig und automatisch Daten produzieren, die für Stadtplaner, den Staat, Werbungtreibende, Banken, Versicherungen oder Einzelhändler wertvoll sind. So wird unsere Welt verdoppelt – neben der Realität gibt es eine zweite Welt der Daten, die zwar die Wirklichkeit widerspiegelt, trotzdem nach den eigenen Gesetzen funktioniert.

Nassehi leitet seine These philosophisch her, zwar mit einem breiten Spektrum an Denkern und Zitaten, leider fehlen die konkreten Beispiele aus der Geschichte der Sozialforschung oder des Internets. Stark geprägt durch die Systemtheorie, verwendet sein Text viele Ideen und Begriffe aus dieser Denkrichtung.

Einige Geistesblitze formuliert er hingegen sehr einfach und treffend. Hätten wir jemals der Einführung des Smartphones oder der Gründung von Google zugestimmt, wenn man uns vorher gefragt hätte und dabei die ganzen Konsequenzen der Datensammelei aufgezeigt hätte? Wahrscheinlich nicht. Warum konnte sich das alles aber etablieren? Nassehis verblüffend einfache Antwort: Weil es funktioniert. Technik, die funktioniert, braucht keine Diskussionen, die Zustimmung findet in jeder Sekunde der Nutzung statt, wenn uns das Navigationssystem an den richtigen Ort gebracht hat oder wir das richtige Produkt bei Amazon bestellt haben. Die Digitalisierung ist kein Fremdkörper, der uns aufgezwungen wurde, sondern unsere komplexe und undurchschaubar werdende Gesellschaft war schon immer digital, so Nassehi. Ein Buch, das spannend und erhellend ist, wenn man sich darauf einlässt.

Armin Nassehi: Muster – Theorie der digitalen Gesellschaft; München 2019, Verlag C.H. Beck; 352 Seiten, 26,00 €, ISBN 978-3-406-74024-4