Ist das Smartphone an allem schuld?

Buchkritik:

„Me, My Selfie and I“ von Jean Twenge –

Die Jugend von heute hatte es in der Geschichte immer schon schwer. In allen Zeiten wurden die Jugendlichen kritisiert, ältere Generationen machten bei ihnen einen beispiellosen Verfall der Sitten aus. Ein bisschen wird man an dieser Art der Jugendschelte erinnert, hört man die Diskussionen über die „Millennials“. Ein alter Hut, denn zwischenzeitlich haben Psychologen schon eine neue Generation ausgemacht und sie ist – welche Überraschung – ganz anders als alle davor. Die Psychologin Jean Twenge, Expertin für Persönlichkeitspsychologie, nennt sie „iGen“ – was sich für den deutschen Verlag vielleicht zu sehr nach einem Apple-Produkt anhörte, weshalb in der deutschen Ausgabe kurzerhand von den „Selfies“ gesprochen wird: „Me, My Selfie and I: Was Jugendliche heute wirklich bewegt“. Twenges Untersuchung basiert auf großen repräsentativen Umfragen, die regelmäßig stattfinden und deshalb einen Vergleich der Generationen zulassen. Denn oft werden, so führt die Autorin zu recht aus, die Alters- und Kohorten-Effekte verwechselt. Teenager und junge Erwachsene unterscheiden sich immer von den älteren Bevölkerungsteilen, doch den sozialen Wandel kann man erst erahnen, wenn man untersucht, wie die verschiedenen Geburts-Jahrgänge im gleichen Alter gedacht und gefühlt haben, und das dann mit den aktuellen Jugendlichen vergleicht. Das hat Twenge getan und sie zeichnet ein eher düsteres Bild.

Denn die „Selfies“ (oder „iGen’s“), zwischen 1995 und 2005 geboren und in der Rezension von 2007/2008 aufgewachsen, möchten eigentlich nicht erwachsen werden – die Kindheit wird immer weiter ausgedehnt. Konflikte mit den Eltern gibt es nicht, die „Selfies“ haben sich komfortabel im Hotel Mama eingerichtet. Sie gehen im Vergleich zu ihren Altersgenossen der früheren Generationen seltener auf Partys, fangen später an, Alkohol zu trinken, vermeiden zunehmend persönliche Kontakte, haben weniger Sex und keine großen beruflichen Ambitionen. Andere Zeitdiagnostiker nennen sie „tugendhaft“ oder „langweilig“. Twenge sieht hingegen weitgehendere Probleme: Die „Selfies“ neigen eher zu Depressionen und psychischen Störungen, sie haben ein starkes Sicherheitsbedürfnis und schätzen klassische Jugendwerte wie Freiheit, Unabhängigkeit, Abenteuer und Meinungsfreiheit geringer ein. Sie streben an, in einer sicheren Welt zu leben, ohne Zumutungen wie zwischenmenschliche Emotionen oder kontroverse Meinungen. Dafür macht die Forscherin in erster Linie das veränderte Kommunikationsverhalten verantwortlich: Smartphones und Facebook ersetzen die direkte Kommunikation von Angesicht zu Angesicht, liefern schnelle Befriedigungen (z.B. in Form von Spielen oder Katen-Videos), erleichtern Mobbing und rauben buchstäblich den Schlaf („Selfies“ schlafen weniger, weil sie sich länger mit ihren Smartphones beschäftigen). Das alles führe, so die Autorin, zu einer Vielzahl bedenklicher Entwicklungen – von der Political Correctness bis zum Wahlsieg Donald Trumps. Das Buch, das neben den statistischen Daten viele Interviews mit der Selfie-Generation zitiert, sammelt eine Menge Fakten und verdeutlicht, was die derzeitigen jungen Erwachsenen von denen früherer Jahre unterscheidet. Auch wenn die Autorin ihre Schlussfolgerungen auf US-Daten gezogen hat, so werden in der deutschen Ausgabe hiesige Ergebnisse referiert, die tendenziell (aber im geringerem Umfang) in die gleiche Richtung gehen. Die Lektüre ist deshalb sehr informativ – man muss aber nicht unbedingt allen Interpretationen der Autorin zustimmen. Denn so unbestreitbar der Einfluss eines universellen Individualismus sind (übrigens ein Megatrend, der seit vielen Jahrhunderten fortdauert), so ist die Fokussierung auf die Smartphone-Nutzung wahrscheinlich doch ein zu einfaches Erklärungsmuster. Außerdem beeinflusst die Perspektive unsere Weltsicht: Wenn wir nach Unterschieden zwischen den Generationen suchen, finden wir welche – und übersehen die Gemeinsamkeiten. Das Buch kann unsere Wahrnehmung für die Eigenheiten der jüngeren Generationen schärfen, aber wir sollten die Jugend nicht gleich in eine Schublade mit negativem Etikett stecken.

Jean M. Twenge: Me, My Selfie and I: Was Jugendliche heute wirklich bewegt; München 2018, Mosaik Verlag, 478 Seiten, 15,00 €, ISBN 978-3-442-39332-9