Wegweiser im digitalen Dickicht

Buchkritik:

„Atlas der digitalen Welt“ von Martin Andree & Thomas Thomsen –

Wahrscheinlich ist es lange her, dass Sie das letzte Mal einen in der Hand hielten: Einen Atlas. So einen richtig schweren, auf Papier gedruckten, mit vielen Landkarten. Navis, Google Maps und das Smartphone haben den Atlas, den wir aus Schule und von langen Autofahrten kannten, schon lange verdrängt. Er scheint nicht mehr zur digitalisierten Welt, in der wir heute leben, zu passen. Da entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass jetzt trotzdem ein neuer Atlas erschienen ist, der uns gerade durch diese digitale Welt führen soll.

Das Buch von Martin Andree und Timo Thomsen ist natürlich keine Straßenkarte, doch es führt uns durch das Dickicht der digitalen Möglichkeiten. Es ist ein mit Informationen gefülltes Sachbuch, dessen Titel „Atlas der digitalen Welt“ sich selbst einen hohen Anspruch setzt. Doch dem wird es mehr als gerecht: Das Buch liefert tatsächlich eine Übersicht, die lange gefehlt hat. Zwar produziert und publiziert das Internet jede Sekunde Unmengen von Daten über Klicks, Likes, Shares und ähnliches. An Marktforschungs- und Mediadaten fehlt es ebenfalls nicht. Doch vergeblich suchte man eine Quelle, die eine Gesamtschau dessen liefert, was im Internet eigentlich so passiert. Welche Websites ziehen die meisten Nutzer an? Wo verbringen wir die meiste Zeit? Welche Aktivitäten führen wir online aus? Diese Fragen beantwortet der Atlas. Seine Datenbasis ist das Crossmedia-Link-Panel der GfK. Dort wird die Internetnutzung von 16.000 deutschen Nutzern rund um die Uhr beobachtet.

Die Daten liefern keine Klicksummen, sondern repräsentative Informationen über Reichweiten, Nutzungsdauer, Überschneidungen, Strukturen. Aus dieser Datenfülle holen die Autoren ein Maximum an Erkenntnissen heraus. Sie zeigen etwa, wo wir unsere Screen-Time verbringen – mit Shopping, Videos, Social Media, aber auch mit Gaming, Glückspielen und Pornografie. Viele spezielle Fragen, etwas zu den Themen wirtschaftliche Konzentration der Plattformen oder politisches Interesse der jungen Generation, werden anhand von Daten und Studienergebnissen diskutiert. Die Informationsdichte ist hoch, aber wie bei einem echten Atlas muss man das Buch nicht von vorne bis hinten lesen, sondern schlägt die Kapitel auf, die gerade von Interesse sind. Die Darstellung der Ergebnisse mit vielen Grafiken ist vorbildlich. Natürlich muss man anmerken, dass die gezeigten Panel-Daten nur eine Momentaufnahme liefern und schon bald veraltet sein werden. Doch es ist sinnvoll, diesen Moment in Breite und Tiefe zu analysieren.

Übrigens reflektieren die Autoren auch die methodischen Aspekte ihrer Arbeit (allerdings in einem in winziger Schrift gesetzten Anhang, bei denen man schon gute Augen oder eine Lesebrille besitzen muss). Jeder, der in der Medienbranche arbeitet, täte gut daran, diesen Atlas immer in Griffweite zu haben.

Martin Andree / Timo Thomsen: Atlas der digitalen Welt; Campus Verlag, Frankfurt am Main 2020, Frankfurt am Main 2020; 270 Seiten, 32,00 €, ISBN 978-3-593-51271-6