Willkommen in unserer Pseudo-Umwelt

Buchkritik:

„Die öffentliche Meinung“ von Walter Lippmann –

Es gibt Bücher, die werden öfter zitiert als gelesen. In den Kommunikations- und Politikwissenschaften trifft das auf das bekannteste Werk des amerikanischen Journalisten Walter Lippmann zu. Sein Buch „Public Opinion“ gilt als Klassiker für die Beschäftigung mit Medien und Politik, in jedem Proseminar wird es erwähnt, doch die wenigsten Studenten werden es tatsächlich zur Hand genommen haben, um es von vorne nach hinten durchzuarbeiten. Jetzt gibt es dafür die Gelegenheit: Das Buch ist nach Jahrzehnten wieder in einer überarbeiteten deutschen Übersetzung neu erschienen.

Medienkritik hat gerade Konjunktur – man denke nur an die Klagen über die „Lügenpresse“ – und der Verlag tut alles, um bei der Neuauflage genau in diese Kerbe zu schlagen. „Öffentliche Meinung“ ist der Titel, doch der Verlag verpasst ihm noch den Untertitel „Wie sie entsteht und manipuliert wird“. Auf dem Umschlag wird das Buch gar als „Der Klassiker zur Meinungsmanipulation“ angepriesen. Nun, das Buch aus den 20er Jahren ist alles Mögliche, aber keine Anleitung zur Manipulation und es werden ebenso wenig geheime Machenschaften aufgeklärt. Tatsächlich ist „Public Opinion“ eine Reflexion darüber, wie wir etwas über die Welt erfahren.

Da wir bei den meisten politische und geschichtlichen Ereignissen nicht selbst dabei sind, erfahren wir darüber aus den Massenmedien – zu Lippmanns Zeiten waren das in erster Linie Zeitungen. Gleichzeitig haben Menschen Vorstellungen, die aus ihrer konkreten Erfahrung gespeist sind – und beides wird dann zu einem Bild vermischt, was nicht die Wahrheit abbildet, sondern unsere Vorurteile bekräftigt. Lippmann hat scharfsinnig zwei wichtige Phänomene beschrieben: Die Rolle von Bildern, die unsere Vorurteile ausdrücken – er nannte sie Stereotypen und popularisierte damit diesen Begriff.

Diese Stereotypen führen zu sogenannten „Pseudo-Umwelten“ – durch Medien vermittelte Vorstellungswelten, die als Ersatz zur wirklichen Umwelt in unseren Köpfen fungieren. Heute könnte man sie als „Filterblasen“ bezeichnen. Man sieht, dass Lippmann durchaus modern in seiner Analyse war – und dass, obwohl es zu seiner Zeit noch gar nicht die entsprechenden Theorien und Befunde aus Sozialpsychologie und Kommunikationswissenschaft gab. Er ahnte sie quasi voraus und lieferte so für die Erforschung von Medien und öffentliche Meinung wichtige Impulse.

Ist das Buch deshalb heute noch eine anregende Lektüre? Nicht unbedingt. Zu sehr merkt man ihm die Spuren der Zeit an. Viele Erläuterungen und Beispiele beziehen sich auf den ersten Weltkrieg und die Nachkriegszeit der 20er Jahre. Was den gebildeten Lesern damals präsent war, müsste heute in den Geschichtsbüchern recherchiert werden, um alle Anspielungen zu verstehen. Lippmanns Argumentation ist nicht systematisch, deshalb nicht leicht nachzuvollziehen. Doch ab und zu glänzen einige Formulierungen wie Goldnuggets im Sand, die von der Weit- und Hellsichtigkeit des Autors zeugen. Auch wenn das Lesen etwas mühsam ist: Hier geht es um ein Werk, was uns hilft, unsere heutige Situation mit Fake News und Filterblasen besser zu verstehen.

Walter Lippmann: Die öffentliche Meinung -Wie sie entsteht und manipuliert wird; Frankfurt am Main 2018, Westend Verlag; 376 Seiten, 26,00 €, ISBN 978-3-864-89223-3